Kettenschleppschiffe hat Klaus Merkle in seiner Kindheit nicht mehr gesehen – deren Zeit war in den 1940er Jahren abgelaufen. Aber die uralte Fortbewegung des Stakens und die Flößerei hat er als Bub erlebt. Diese Erinnerungen wurden wach, als er sich im Vorfeld der Landesausstellung „Main und Meer“ intensiv mit der Treidel- und Kettenschleppschifffahrt auf dem Main beschäftigte. Aus einem Vortrag für die Numismatische Gesellschaft Schweinfurt, deren Mitglied Merkle seit langem ist, entstand ein Sonderheft. Es ist bereits das vierte aus seiner Feder.
Zu Beginn führt Klaus Merkle den Leser zurück in jene Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Familien wieder sonntags spazieren gehen. Ein beliebter Weg führt durch die Wehr. Auf der Höhe von Mainberg muss man etwas warten, bis einen ein Fischer mit seinem Kahn holt. Mit einer langen Eisenstange mit gabelförmigen Eisen-Verstärkungen am Ende stakt er über den seichten Main. Noch lieber freilich scheint sich der 73-jährige Merkle an eine Mutprobe zu erinnern. Die Buben sprangen zu gerne vom Ufer auf einzelne Holzstämme. Wenn die sich drehten, half alles Balancieren nichts mehr und man landete im sonntäglichen Bleyle-Anzug im Wasser.
Die Beziehung von Klaus Merkle zum Main ist also eine intensive und so liefert er im ersten Teil seiner Publikation viele interessante Informationen über den Fluss selbst, bevor er auf das eigentliche Thema kommt. Der Main war bis ins 19. Jahrhundert ein gemächlicher, seichter Fluss, was die Schifffahrt sehr behinderte. Unter dem Druck der Privatschiffer und Dampfschifffahrtsgesellschaften begann um 1820 die Regulierung. Das Flussbett wurde in der Mitte vertieft, Einbauten – sie wurden Buhnenfelder genannt – führten die Strömung zur Flussmitte und erhöhten die Fließgeschwindigkeit. Ab 1885 begann die Kanalisierung und Stauregulierung des Mains.
Bis dahin reichten flussabwärts Strömung und Wind zur Fortbewegung aus. Aber flussaufwärts musste jahrhundertelang getreidelt werden. Das heißt, die Schiffe wurden von Tieren oder Menschen, die sich auf Treidelpfaden am Ufer bewegten, an langen Leinen gezogen. Deswegen heißen die Wege auch Leinpfade. In Schweinfurt gibt es bis heute den „Leinritt“.
Die Pfade führten nicht immer auf der gleichen Seite. Oft musste gewechselt werden, an den so genannten „Sprengstellen“. Die Leinreiter trieben entweder die Pferde in den Main oder sie setzten mit Schelchen über oder sie lösten die Schleppleine. Dann mussten die Schiffer zur anderen Mainseite lenken, während die Leinreiter bis zur nächsten Fähre ritten, übersetzten und zurückkehrten. Zu Beginn einer Fahrt wurden Dauer und Bezahlung festgelegt, die Schiffer mussten die Reiter und Pferde auch verköstigen. Die Schiffs- und Leinreiter bildeten eine eigene Zunft. Sie waren raue Gesellen, die unterwegs in preiswerten Wirtshäusern übernachteten und abends gerne ihren Durst löschten. Noch heute existieren einige dieser Gaststätten, wie der „Anker“ in Sommerhausen oder „Stadt Mainz“ in Würzburg.
Mit der Einführung der Kettenschleppschifffahrt verloren die Leinreiter ihre Arbeit. Bereits im 15. Jahrhundert hatte man in Frankreich mit dem Prinzip der Kettenschleppschiffe experimentiert, aber es sollte noch lange dauern, bis sie in Deutschland verkehrten: das erste auf der Elbe 1866, ab 1871 auf der Saale, ab 1878 auf dem Neckar. Die Mainschiffer mussten lange gegen den Widerstand der bayerischen Regierung um die Einführung der neuen, kostengünstigeren Technik kämpfen. Klaus Merkle beschreibt diesen Kampf ausführlich, der am 6. Juli 1898 mit der feierlichen Eröffnung der Kettenschleppschifffahrt von Lohr nach Würzburg endete.
Auch die Rolle der Dampfschifffahrt mit Raddampfern, die sich aber nicht durchsetzen konnten, findet in Merkles Artikel Erwähnung. Im Gegensatz zu den Raddampfern konnten die Kettenschleppschiffe die in den Dampfmaschinen erzeugte Leistung viel effektiver umsetzen. Außerdem waren sie so flach, dass sie auch auf Flüssen mit geringer Wassertiefe verkehren und starke Strömungen überwinden konnten. „Der Nachteil war ihr hoher Preis und ihre geringe Manövrierfähigkeit“, schreibt Merkle. Denn sie waren ja an die Kette gebunden, die in der Mitte des Mains auf dem Grund lag.
Fixiert war die schwere Kette nur am Anfang und Ende des Flusses. Über einen Ausleger am Bug der Schlepper wurde sie aus dem Wasser gehoben und auf die Führungsrollen in der Mitte des Schiffes gelegt. Ein Trommelwindwerk übertrug die Kraft der Dampfmaschine auf die Kette, an der sich der Schlepper stromaufwärts zog – mit bis zu zwölf Schiffen im Schlepptau. Die Besatzung eines Kettenboots bestand aus Kapitän und fünf Matrosen.
Die Schweinfurter mussten noch etliche Jahre auf die Kette warten. Erst im Oktober 1911 wurde die Strecke Kitzingen-Schweinfurt eröffnet, die Weiterführung nach Bamberg ein Jahr später. Ab 1912 waren zwischen Aschaffenburg und Bamberg acht Kettenschleppboote unterwegs. Schwierig wurde es, wenn zwei sich begegneten. Dazu gab es alle 500 Meter Schlösser in der Kette, Schäkel genannt, die geöffnet werden konnten. Die Ausweichmanöver waren sehr kompliziert
Ihre große Zeit hatte die Kettenschleppschifffahrt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre hinein. Dann erforderte die Industrialisierung mehr Transportkapazitäten. Die unbeweglichen Schlepper bekamen Konkurrenz: von Eisenbahn und Radschleppdampfer mit Dieselmotoren. „Die bayerische Kettenschifffahrt verlor ihre Rentabilität“, schreibt Klaus Merkle. Die Kette wurde 1938 gehoben.