Als Aleksandr Makarov am Schaufenster des Tattoo-Shops "Gerade Linie" in der Schweinfurter Innenstadt steht, kneift er die Augen zusammen und genießt einen Moment den Sonnenschein. Der Winter hier in Deutschland drücke mehr auf das Gemüt als der wesentlich kältere in der alten Heimat Russland, erklärt der 32-Jährige. Er schweift kurz ab. Vorausgegangen war ein offenes und intensives Gespräch mit dem internationalen Spitzentätowierer über Kunst, Kleinstädte und einer Heimat, in der er erstmal nicht mehr leben möchte.
Seine Werke, mit denen er sich auf der Haut seiner Kunden verewigt, sind schon auf den ersten Blick eindrucksvoll. Egal ob bunt oder in black-and-gray gehalten, im Realistic-Stil oder als Comics, die Tattoos des Russen heben sich mitunter spektakulär von der breiten Masse ab. Eigentlich sind solche Werke meist nur in den großen Metropolen zu finden. Seit über einem Jahr tätowiert der Mann aus der russischen Millionenstadt Jekaterinburg aber im fast 4000 Kilometer entfernten Schweinfurt.
An seine ersten gestochenen Tätowierungen kann er sich noch recht gut erinnern, er muss dabei etwas schmunzeln. "Das war 2011 in der russischen Armee", sagt er und fügt an, dass das noch nicht der echte, seriöse Beginn seiner Laufbahn als Tätowierer war. Mit einer selbstgebastelten Maschine, nach einer im Internet gefundenen Anleitung, verewigte er sich mit typischen Tattoo-Symbolen der russischen Armee in die Haut der Kameraden.
Bachelor in Grafikdesign an der Universität in Jekaterinburg
"Die Tattoos waren schrecklich", gesteht er. "Und in Russland auch illegal." Zwei Jahre später begann Makarov, der einen Bachelor in Grafikdesign an der renommierten Universität in Jekaterinburg absolvierte, als Tätowierer in einem offiziellen Studio. Es war die Zeit, in der die Tattoo-Szene des Landes explodierte und den Weg in die Mitte der Gesellschaft fand.
"Noch vor 20 Jahren waren in Russland nur Kriminelle oder Soldaten tätowiert", erklärt er. Die jüngste gesellschaftliche Entwicklung führte auch dazu, dass das Land zahlreiche Spitzentätowierer herausbrachte, die auf den großen Tattoo Conventions Europas für Furore sorgen. Auch Makarov räumt bei den prestigeträchtigen Tattoo-Messen regelmäßig die Preise für die besten Arbeiten ab. Er denkt, ein Grund, dass die ehemaligen Länder der Sowjetunion so gute Tätowierer hervorbringen, liegt noch im damaligen Schulsystem, in dem großer Wert auf den Kunstunterricht gelegt wurde.
Auch er selbst ist versiert in verschiedenen Kunstformen auf den unterschiedlichsten Materialien. "Ich würde als Kunde nie einem Tätowierer vertrauen, der nicht zeichnen kann", erklärt Makarov, der sich neben Tattoos unter anderem auch für Ölmalerei und Typografie begeistert. An Tattoos begeistern ihn auch, dass sie für das Leben der Kunden von großer Bedeutung sind. Einhergeht damit eine große Verantwortung für ihn als Künstler, erklärt er.
Doch was hat ihn gemeinsam mit seiner Ehefrau in die unterfränkische Provinz getrieben? Europäische Kleinstädte seien sehr lebenswert, findet er. Die Wege sind kurz, jeder kennt jeden, es gibt Arbeit. Das gefällt ihm. Er schwärmt außerdem von den für Europäer unbeschränkten Reisefreiheit innerhalb der EU. Nach Deutschland lockte ihn der Gerade-Linie-Shop-Inhaber Fikret Topic. Vorher arbeitete Makarov im polnischen Krakau.
Die Sanktionen für russische Bürger trafen auch ihn
Mit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine änderte sich auch für ihn vieles. Die Sanktionen für russische Bürger trafen ihn. Er konnte weder in seinen Tattoo-Shop nach Krakau noch auf sein Geld auf seinem polnischen Konto zugreifen. "Von einem auf den anderen Tag habe ich dort alles verloren", blickt er zurück. Seine Reise setzte er in Deutschland fort, das zwar mit gewohnt üppiger Bürokratie, aber keine Sanktionen für Russen aufwartet.
Zurück in die Heimat möchte er aktuell nicht. "Es hat politische Gründe", verrät er. "Ich mag nicht, was mit dem Land passiert." Die Zustände seien verrückt, man könne sich dort nicht mehr sicher fühlen. Den Überfall auf die Ukraine hielt er noch einen Tag davor für unmöglich. Er selbst hat, genauso – wie er schätzt – die Hälfte aller Russen, Verwandte in der Ukraine.
Makarov blickt erneut aus dem Fenster, runter in Richtung Markplatz und macht deutlich, wie ihm das Herz aufgehe, wenn er dort regelmäßig Leute demonstrieren sieht. Im aktuellen Russland sei es nicht möglich, irgendetwas zu verändern. Er selbst war politisch aktiv, sagt er. Seit dem Kriegsbeginn ist allerdings jede politische Veränderung quasi unmöglich geworden, betont er. Freunde von ihm sitzen im Gefängnis, weil sie harmlose Parolen wie "Stoppt den Krieg" an die Wände schrieben. Der Wahl-Schweinfurter befürchtet, dass sich in den nächsten zehn Jahre in Russland erstmal gar nichts zum Guten verändern wird.