Kernfusion statt Kernspaltung. Das ist schon seit längerem eine Idee, um Energie günstiger, umweltverträglicher und vor allem gefahrloser produzieren zu können. Dazu aber müsste es Wissenschaftlern gelingen, den in der Natur vorkommenden Fusionsprozess nachzubauen.
Mit Uwe Nüsslein könnte ein gebürtiger Gerolzhöfer dazu beitragen, dass die Energieprobleme sehr viel leichter zu lösen sind als momentan. Nüsslein arbeitet seit 2006 bei der Linde Kryotechnik AG in der Schweiz. Linde baut hier hochtechnologische Kälteanlagen zur Erzeugung tiefster Temperaturen.
Und genau darum geht es beim jüngst abgeschlossenen Projekt, das unter der Leitung von Uwe Nüsslein mit bis zu 17 Mitarbeitern stand. Der Auftrag: Die Linde Kryotechnik AG sollte eine schlüsselfertige Helium-Kälteanlage an das Max-Planck-Institut im mecklenburg-vorpommerschen Greifswald liefern. Das Institut plant ein womöglich bahnbrechendes Fusionsexperiment, genannt Wendelstein 7-X, mit dessen Hilfe Forscher sozusagen das Feuer der Sonne auf der Erde zünden wollen. Das Experiment in Greifswald dient noch nicht zur Energieerzeugung. Untersucht wird erst einmal der mögliche Dauerbetrieb dieses Reaktortyps (Stellerator).
Die Kernfusion ist Ursache dafür, dass die Sonne strahlt und nachts bei wolkenlosem Himmel die Sterne funkeln. Durch Kernfusion entsteht neben Licht auch Energie. Auf der Sonne verschmelzen unter unvorstellbarem Druck (im Kern 200 Milliarden bar) und unglaublichen Temperaturen (15,6 Millionen Grad) Wasserstoffatome zu Helium.
Auf der Erde sind jedoch so extrem hohe Drucke wie im Innern der Sonne kaum erzeugbar. Daher werden die Atome auf 100 Millionen Grad erhitzt, so dass sie stattdessen mit sehr hoher Geschwindigkeit zusammenstoßen und dabei verschmelzen.
Am einfachsten funktioniert die Fusion mit den beiden Wasserstoffsorten Deuterium und Tritium. Bei der Verschmelzung zu Helium werden riesige Mengen Energie frei. Ein Gramm Brennstoff könnte in einem Kraftwerk 90 000 Kilowattstunden Energie freisetzen, die Verbrennungswärme von elf Tonnen Kohle, wie das Max-Planck-Institut errechnet hat. Und anders als bei den fossilen Energieträgern oder der Kernspaltung sind die Grundstoffe für die Kernfusion in nahezu unbegrenzter Menge überall auf der Erde verfügbar.
Die Fusionsprodukte aus Deuterium und Tritium sind Helium, Neutronen und Energie. Das Helium wird im Fusionskraftwerk abgeleitet (und hat nichts mit dem Helium der Kälteanlage zu tun). Die Energie wird im Reaktor an ein Kühlmittel, zum Beispiel Wasser übertragen. Die abgegebene Wärme geht weiter zum Dampferzeuger. Ab hier verläuft der weitere Weg der Stromerzeugung konventionell, das heißt mit Dampferzeuger, Turbine und Generator.
Im Fusionsreaktor wird für die Verschmelzung der Atomkerne ein Plasma, ein elektrisch leitendes Gas, erzeugt. Das Millionen Grad heiße Plasma wird dabei von starken Magnetfeldern wie in einem Käfig in Schwebe gehalten. Es darf nicht die kalten Außenwände berühren, da es sofort abkühlen und die Fusionsreaktion stoppen würde. Das kompliziert geformte Magnetfeld hat die Form eines in sich verdrehten Fahrradschlauchs. Nur mit supraleitenden Spulen kann das starke Magnetfeld erzeugt werden. Hierzu müssen die Spulen in Betrieb auf minus 269 Grad Celsius gekühlt werden.
Bei der Kühlung setzt das Linde-Projekt ein, für das Uwe Nüsslein gesamtverantwortlich war. Auch hier spielt das Edelgas Helium eine entscheidende Rolle. Die extrem tiefen Temperaturen sind nur mit Helium realisierbar. Helium ist das einzige Element, das bis zum absoluten Temperaturtiefpunkt (minus 273,15 Grad) unter Normaldruck nicht fest wird.
„Für die Erzeugung solcher Temperaturen werden hoch technisierte Maschinen eingesetzt, beispielsweise Expansionsturbinen, die mit einer Geschwindigkeit von weit über 200 000 Umdrehungen pro Minute rotieren“, erklärt der 41-jährige Gerolzhöfer Diplom-Ingenieur für Verfahrenstechnik und Energieverfahrenstechnik.
In dem Kälteprozess sind sieben dieser Turbinen eingebaut. In ihnen wird das zuvor mittels Schraubenkompressoren verdichtete Heliumgas auf niedrigeren Druck entspannt und kühlt dabei ab. Die gesamten Apparaturen, wie Maschinen, Wärmetauscher und Ventile, die bei Temperaturen unter 0 Grad arbeiten, sind in sogenannten Coldboxen eingebaut. Die Kälteanlage besteht unter anderem aus drei größeren Coldboxen (6,2 Meter lang, 3,2 Meter Durchmesser) und einer kleineren. In Betrieb herrscht in diesen Boxen Vakuum wie in einer Thermoskanne. Insgesamt sind in der Kälteanlage über 1000 Ventile und über 400 Messstellen verbaut. Zur Kühlung der Kernkomponenten des Fusionsreaktors arbeitet die Anlage vollautomatisch.
Die Inbetriebnahme des Fusionsexperiments läuft mittlerweile. Mitte 2015 plant das Max-Planck-Institut, Teilinstitut Greifswald, erstes Plasma zu erzeugen. „Für uns war das die komplexeste Kälteanlage, die wir jemals gebaut haben“, sagt Nüsslein.
Auch wenn das Experiment bestätigen sollte, dass ein Fusionskraftwerk im Dauerbetrieb funktioniert, wird es noch lange dauern, bis Energie in größeren Mengen aus dieser Art der Erzeugung wirtschaftlich kommt. Forscher rechnen mit je 20 Jahren Planungs-, Bau- und Betriebszeit, so dass ein Fusionsreaktor frühestens Mitte dieses Jahrhunderts ans Netz gehen könnte.
Nüssleins Elternhaus steht übrigens im nördlichen Stadtgebiet; die Eltern sind Otmar und Helga. Der erfolgreiche Tüftler war aktiver Leistungsschwimmer beim TV Gerolzhofen. Die Stadt ehrte ihn mehrmals für seine Siege im Becken.
Daten des Experiments
Wendelstein X-7
Durchmesser der Anlage: 16 Meter
Höhe: 5 Meter
Gewicht: 725 Tonnen
Großer Plasmaradius: 5,5 Meter
Plasmavolumen: 30 Kubikmeter
Plasmagewicht: 0,005 bis 0,03 Gramm
Anzahl der modularen Spulen: 50
Anzahl der ebenen Zusatzspulen: 20
Masse der Spulen: 350 Tonnen
Masse der Tragstrukturen: 70 Tonnen
Heizleistung (erste Ausbaustufe): 15 Megawatt