zurück
Sommer im Freibad: Der Mythos Sprungturm
Sommer im Freibad. Es gibt vermutlich kaum ein Gebäude, das so ausschließlich einem einzigen Zweck dient wie der Sprungturm im Freibad. Der Sprungturm im Freibad ist nur für eines gut: raufsteigen und runterspringen.
Von unserem Redaktionsmitglied Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 23.07.2010 18:28 Uhr

Früher hieß das Schweinfurter Freibad „Sommerbad“. Das klang poetischer. Allein die Verbindung der Worte „Sommer“ und „Bad“ war Verheißung. Heute heißt es „Sport- und Freizeitbad Silvana“, der Sprungturm aber ist derselbe geblieben. Schlank und scharfkantig steht er da in kalter Zweckmäßigkeit – Herausforderung für die Zögernden, Verhöhnung der Furchtsamen, Heimat der Verwegenen.

Wer das Bad betritt, muss erst eine hell gepflasterte Fläche überqueren, auf die gnadenlos die Sonne brennt. Über dieser Sonnenfläche thront der Sprungturm. Man sieht ihn von hier aus nur teilweise, aber es reicht für diese Mischung aus Vorfreude und Bangigkeit, die auch mich jedes Mal ergreift, obwohl meine Sprungturm-Karriere nach einem missglückten Köpfer vom Dreier vor vielen Jahren einen Knick erlitten hat. Der Sprungturm ist das Herz des Freibads, vielleicht sein Nervenzentrum. An anderer Stelle mögen sie auf den Händen laufen, Volleybälle schmettern oder sogar auf gespannten Bändern balancieren. Am Sprungturm spielt sich das wahre Leben ab.

Zur Drei-Meter-Plattform führt noch eine richtige Treppe aus Betonstufen. Ab da sind es schmale Leitern aus Stahl. Die kommt man leichter hinauf als hinunter. Hinuntersteigen ist ja auch nicht vorgesehen. Und doch kneift hin und wieder einer, obwohl man im Leben kaum größere Schmach auf sich laden kann. Geht zur Kante vor, schaut hinunter, ringt mit sich und tritt dann zurück. Vielleicht weil er erst noch die Badehose ordnen muss oder weil er nochmal den Weitblick auf die Stadt genießen möchte, den außer ihm ja keiner wahrnimmt.

Aber wer sich so verhält, täuscht niemanden. Wer den Fußweg nach unten nimmt oder oben auch nur zu lange zögert, der muss sich auf gnadenlosen Spott gefasst machen. Wie das kleine Mädchen, dass ganz vorne am Fünfer steht. Hinter ihr vier genauso kleine Jungs, die jede ihrer verzweifelten Bewegungen mitleidlos parodieren. Wie sie immer wieder leicht in die Knie geht, als wolle sie den Absprung vorbereiten. Wie sie sich schon die Nase zuhält, obwohl der Schritt ins Leere noch in weiter Ferne ist.

Rückwärts-Salto für Bikini-Schönheiten

Wahrscheinlich erfährt man am Sprungturm mehr über einen Menschen als in vielen anderen Situationen. Da sind die, die offenbar keinerlei Furcht kennen. Diese winzigen Kinder zum Beispiel, die zitternd und mit blauen Lippen immer wieder wie Ameisen den Turm hinaufkrabbeln, um sich ein ums andere Mal zappelnd in die Tiefe zu werfen, als hänge ihr Leben davon ab. Oder die Halbwüchsigen, die an ihrem gestreckten Rückwärts-Salto feilen und hoffen, dass die Bikini-Schönheiten unten am Beckenrand ihnen ihre huldvolle Aufmerksamkeit schenken.

Der Sprungturm im Silvana: Herausforderung für die Zögernden, Verhöhnung für die Furchtsamen, Heimat für die Verwegenen.
Foto: MAthias Wiedemann | Der Sprungturm im Silvana: Herausforderung für die Zögernden, Verhöhnung für die Furchtsamen, Heimat für die Verwegenen.

Da sind die, die sich jedes Mal überwinden müssen und doch nicht loskommen vom Turm. Denen es, vielleicht auch unter dem Druck der pubertierenden Clique, immer wieder gelingt, das Entsetzen beiseite zu schieben, das einen leicht überkommen kann, wenn man an dieser Kante steht und auf diese sehr weit entfernte Wasseroberfläche schaut. Die während des Flugs mit dem ganzen verkrampften Körper mitbremsen wie ein schlechter Beifahrer im Auto.

Am mutigsten aber sind vielleicht die, die auf die Frage „Gehst du mit, vom Fünfer springen“ nicht sagen: „Nö, ich warte, bis der Zehner aufmacht.“ Sondern sich trauen zu antworten: „Nein, ich traue mich nicht.“ Für sie allerdings könnte der Sprungturm für alle Zeiten so etwas wie ein nicht eingelöstes Versprechen bleiben.

Selten sieht man vollkommeneres Glück in jungen Gesichtern als in dem Moment, in dem sie auftauchen und – scheinbar noch beim Luftholen – mit aller Kraft brüllen: „Ich bin gesprungen! Ich bin gesprungen!“ Was soll einem noch passieren im Leben da draußen, wenn man das geschafft hat? Manche, Mädchen vor allem, springen beim ersten Mal gemeinsam und fallen einander danach glückstrunken in die Arme. Schwer vorzustellen, dass eine derart begründete Freundschaft nicht ein ganzes Leben lang halten sollte.

Dreier und Fünfer sind Alltag. Aber wenn die Durchsage kommt, dass nun der Siebenkommafünfer und anschließend der Zehner aufmacht („Wir wünschen eine schöne Flugphase“), geht ein unmerkliches Zittern durchs Bad. Und schon während der Bademeister (heute heißt das „Fachangestellter für Bäderbetriebe“) die Absperrungen entfernt, hat sich hinter ihm eine tropfende Traube Ungeduldiger gebildet.

Fliegen nur mit Fluglotse

Von den beiden hohen Plattformen wird nur unter fachlicher Aufsicht gesprungen. Und da der Fachangestellte für Bäderbetriebe, also der Fluglotse, immer wartet, bis der zuletzt Gesprungene wieder auftaucht und wegschwimmt, bevor er den Luftraum für den Nächsten freigibt, entsteht eine gewisse Regelmäßigkeit: Wer nicht hinschaut, für den hört es sich an, als werfe jemand beharrlich aus großer Höhe ziemliche schwere Säcke ins Wasser.

Dabei klingt beileibe nicht jeder Aufprall gleich. Am häufigsten ist tatsächlich ein mehr ober weniger intensives „Platsch“. Das entsteht, wenn man Füße voran einigermaßen gerade eintaucht. Bei den oben erwähnten Kamikaze-Winzlingen macht es noch nicht mal richtig Platsch. Fast hat man den Eindruck, als tauchten die gar nicht richtig ein. Wie diese Insekten, die so leicht sind, dass sie übers Wasser laufen können.

Dann gibt es das „Wladabumm“, den Aufprall jener Springer, die jeden Zentimeter in der Luft genießen, irgendwie nochmal beschleunigen und dann so eintauchen, dass Aufspritzen und Flutwelle möglichst eindrucksvoll ausfallen. Interessanterweise sind es nicht die Dicken, die die größten Platscher machen, sondern die, die die klassische Technik der Arschbombe am besten beherrschen: ein Bein angezogen, leichte Rückenlage, ausgestellte Ellenbogen. Die – sehr kurzfristige – Verwüstung der Wasseroberfläche erinnert dann im Idealfall an einen Atompilz. Unter Wasser wiederum sieht es aus, als explodiere der eintauchende Springer zu einer Wolke Luftblasen.

Der Sprungturm im Silvana: Herausforderung für die Zögernden, Verhöhnung für die Furchtsamen, Heimat für die Verwegenen.
Foto: MAthias Wiedemann | Der Sprungturm im Silvana: Herausforderung für die Zögernden, Verhöhnung für die Furchtsamen, Heimat für die Verwegenen.

Schmerzhaft klingt das „Rataklatsch“, das entsteht, wenn der Springer – besonders vom Zehner – seine Extremitäten nicht richtig am Körper anlegt. Die Arme schlagen dann nochmal extra auf, was nicht allzu angenehm sein dürfte. Die Profis aber erkennt man am kleinen, satten „Swutsch“, mit dem ihr Körper ins Wasser schneidet wie die Sense durch hochstehendes Gras. Das sind dann meist Erwachsene. Am Wochenende kommen immer ein paar, die richtige Sprünge können. Köpfer vom Zehner zum Beispiel.

Der Zehner ist er eigentliche Mythos. Ein Schweinfurter Stadtrat hat es sich jahrelang nicht nehmen lassen, den ersten offiziellen Sprung der Saison vom Zehner zu machen. Man erzählt sich, dass sich der Pressefotograf dann immer einen Jux daraus gemacht hat zu behaupten, das Bild habe nicht geklappt, und der Stadtrat müsse nochmal springen.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass man ohne ein Minimum an Überwindung vom Zehner springen kann. Im Zuge der Recherche für diese Geschichte habe ich mich nochmal vom Dreier getraut und dann – zum ersten Mal in meinem Leben – von Fünfer. Ich habe nur sehr kurz nach unten geschaut, um auf niemand draufzuspringen, und bin dann sehr formlos und vermutlich sehr unelegant gesprungen. Ich habe mir dabei die Nase zugehalten wie das kleine Mädchen. Sie hat inzwischen vermutlich auch den Siebenkommafünfer und den Zehner bezwungen.

Diesen Mut werde ich nicht mehr aufbringen. Aber wahrscheinlich muss jeder Mensch mit dem einen oder anderen nicht eingelösten Versprechen leben.

 
Der Sprungturm im Silvana: Herausforderung für die Zögernden, Verhöhnung für die Furchtsamen, Heimat für die Verwegenen.
Foto: MAthias Wiedemann | Der Sprungturm im Silvana: Herausforderung für die Zögernden, Verhöhnung für die Furchtsamen, Heimat für die Verwegenen.
 
Themen & Autoren / Autorinnen
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen
Kommentare
Aktuellste
Älteste
Top