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Schweinfurt
SKF baut Turbine für Gezeitenkraftwerk vor Schottland
Vor der Nordküste Schottlands geht im Frühling ein neuartiges Gezeitenströmungskraftwerk mit einem kompletten Antriebsstrang "Made by SKF" ans Netz.
Die SKF-Tidenturbine bei der Abnahme durch Orbital Marine Power im Schweinfurter Werk.
Foto: SKF | Die SKF-Tidenturbine bei der Abnahme durch Orbital Marine Power im Schweinfurter Werk.
Bearbeitet von Horst Breunig
 |  aktualisiert: 11.02.2024 13:30 Uhr

Raus aus Atom und Kohle, rein in Sonne und Wind: So lautet bislang die einfache Rechnung der erneuerbaren Energiewende. Sie soll helfen, den klimaschädlichen CO2-Ausstoß zu senken, die Erderhitzung zu bremsen und so die Lebensgrundlagen unserer Kinder und Enkel zu bewahren. Mit Hilfe von SKF gewinnt nun neben Sonne und Wind ein weiterer wichtiger Energielieferant an Bedeutung: Der Mond. 

Die Orkney-Inseln im Norden Schottlands sind ein dünn besiedelter Archipel mit fast dauerhellen Hochsommertagen und zuckenden Polarlichtern in langen Winternächten. Sie sind auch Experimentallabor für die Energiewende in Großbritannien und ganz Europa. "Auf den 70 Inseln, von denen nur 20 besiedelt sind, drehen sich 500 Windräder in der meist beständigen Meeresbrise", schreibt SKF in einer Pressemitteilung. Das erzeugt mehr Strom, als die rund 22 000 Einwohner verbrauchen. Der Überschuss wird teilweise in zwei Elektrolyse-Anlagen in grünen Wasserstoff umgewandelt.

Mit Hilfe moderner Technik von SKF wird dort ab Frühling 2021 auch eine andere Kraftquelle der Natur angezapft: Die Energie des Mondes, auf der Erde spürbar in den durch seine Anziehungskraft erzeugten Gezeitenströmen des Meeres. Wo Ebbe und Flut sich zwischen Inseln hindurchzwängen, entstehen starke Strömungen. Vor den Orkney-Inseln sind diese besonders kräftig, weshalb hier seit einigen Jahren mit Meeresströmungskraftwerken experimentiert wird. Dies ganz besonders am European Marine Energy Centre (EMEC), das im größten Gezeitenstrom Europas angesiedelt ist: dem Pentland Firth. Das EMEC ist SKF-Angaben zufolge mittlerweile Europas führendes Entwicklungscenter für Gezeiten- und Wasserströmungstechnologien.

Das schottische Unternehmen Orbital Marine Power, nach eigenem Bekunden weltweit führend in der Entwicklung von Tidenkraftwerken, steht derzeit kurz vor der Fertigstellung der ersten kommerziell genutzten Zwei-Megawatt-Anlage, der "Orbital O2". Sie wird die weltweit leistungsstärkste Tidenturbine im Echtbetrieb sein.

In rund 15 Metern Tiefe, unter einem zigarrenförmigen, schwimmenden Überbau von der Länge eines Jumbo-Jets, befinden sich an zwei tragflächenartigen Armen zwei voll integrierte Antriebsstränge von SKF – die eigentlichen Kraftwerke. Hier drehen sich die beiden zweiflügeligen Rotoren, jeder mit 20 Metern Durchmesser. Diese größten Rotoren, die jemals unter einer einzelnen Tragplattform montiert wurden, werden angetrieben von der Gezeitenströmung. Der in den Generatoren erzeugte Strom wird über ein Seekabel an Land geleitet und kann dort direkt ins Netz eingespeist, gespeichert oder zu "grünem Wasserstoff" verarbeitet werden.

SKF als Kraftwerkshersteller

SKF ist dabei weit mehr als nur Hersteller der großen Rotorenlager. Tatsächlich lieferte das Ocean Energy Team in Kooperation mit dem Team von Special Products Schweinfurt unter der kommerziellen Leitung von Michael Baumann den kompletten, voll integrierten Antriebsstrang als „Plug & Play-Modul“ nach Schottland. "Somit steigt SKF sozusagen vom Komponentenlieferanten auf in die Liga der Kraftwerkshersteller für die Energiewende", heißt es in der Mitteilung weiter.

Michael Baumann, SKF-Geschäftsentwicklungsleiter für "Marine and Ocean Energy", sieht mittelfristig einen enormen Bedarf für Meeresströmungskraftwerke. Die 2-MW-Antriebsstränge, wie sie beim schottischen Orbital-Projekt zum Einsatz kommen, ergänzen dabei die Stromherstellung aus Sonnen- und Windkraft. "Die Gezeiten sind verlässlich, der Stromfluss ist berechenbar, und die Energiedichte durch das Arbeitsmedium Seewasser sehr hoch", schildert Michael Baumann die Vorzüge der Anlagen gegenüber den ansonsten eher unbeständigen Voraussetzungen für erneuerbare Energieerzeugung.

Ausgestattet mit SKF-Technik für die Aufnahme der Tidenenergie sowohl bei Ebbe als auch bei Flut, liefert diese Anlagenart etwa die doppelte Ausbeute eines vergleichbaren 2-MW-Windrads an Land, auch auf Grund des weitaus höheren Lastfaktors aus der Gezeitenströmung.

Unter einem 72 Meter langen, zigarrenförmigen Schwimmkörper drehen sich zwei SKF-Tidenturbinen "Made in Schweinfurt".
Foto: Grafik Orbital Marine Power Ltd. | Unter einem 72 Meter langen, zigarrenförmigen Schwimmkörper drehen sich zwei SKF-Tidenturbinen "Made in Schweinfurt".

Matthias Hofmann, technischer Leiter für "Marine und Ocean Energy", zählt stolz die ungewöhnlich lange Liste der Wertschöpfung im Unternehmen auf. "SKF-Kernkompetenz steckt bei der Orbital O2 nicht nur in den Hauptlagern (SKF Schweinfurt) und in den Schwenklagern (SKF Frankreich) für die Rotorblattverstellung, sondern – von SKF Marine in Hamburg – auch in den Seewasserdichtungen der Hauptwellen zwischen der Rotornabe und dem Gondelgehäuse. Und von uns kommt auch die Zustandsüberwachung CoMo des Gesamtsystems. Des Weiteren liefert SKF die Getriebelager aus Schweinfurt und bezieht das fertig montierte und getestete Getriebe wieder als Herzstück des gesamten Antriebsstrangs zurück."

Aggressives Salzwasser der rauen Nordsee

Alles muss für den Dauerbetrieb im aggressiven Salzwasser der rauen Nordsee ausgelegt sein, mit geringstmöglichem Wartungsbedarf. Zahlreiche Komponenten im Inneren der beiden Antriebsstränge ergänzen die von SKF selbst hergestellten Anteile: Generator, Bremssystem und Getriebe kommen von spezialisierten Zulieferern aus der Industrie.

Die Montage des Gesamtsystems war eine besondere Herausforderung: Die beiden Hauptwellenlagerungen konnten mit maßgeblicher Unterstützung des Teams im Schweinfurter Sven Wingquist Test Center vormontiert werden. Aber es musste noch eine Möglichkeit gefunden werden, diese in die Gondelgehäuse einzubauen und die beiden am Ende knapp 80 Tonnen schweren Antriebsstränge zu verladen. Auch hier konnte das Schweinfurter Team von SKF Special Products mit seinem Maschinenbau-Hintergrund Knowhow einbringen und die Montage in enger Kooperation mit einem langjährigen Partner für Großbauteile bewerkstelligen.

Meeresenergie: Enormes Potenzial

Experten sehen in Meerwasserkraftwerken, die aus der Wellen- oder Gezeitenkraft Energie gewinnen, einen wichtigen Pfeiler der erneuerbaren Energiewende. In ihrer aktuellen Offshore-Strategie peilt die EU-Kommission 40 Gigawatt Meeresenergie bis zum Jahr 2050 an – erzeugt in Wellen- oder Gezeitenkraftwerken, schwimmenden Photovoltaikanlagen und mittels Nutzung von Algen zur Herstellung von Biokraftstoffen. Das O2-Projekt erhält sowohl Fördermittel von der Europäischen Union aus deren Forschungs- und Entwicklungsprogramm HORIZON 2020 (FloTEC) als auch aus EU-Regionalfördertöpfen für Nordwest-Europa (ITEG).

Das Schweinfurter Ocean Energy und Special Products Team von SKF ist unterdessen seit einigen Jahren auch mit anderen innovativen und führenden Herstellern zur Nutzung der Gezeitenenergie im Geschäft. So mit dem britischen Unternehmen SIMEC Atlantis Energy, das weltweit Kraftwerke für erneuerbare Energien projektiert und baut. Hierfür werden regelmäßig Großlager aus Schweinfurt geliefert, sowie eine 18 Tonnen schwere Baugruppenmontage der Hauptwellenlagerung für deren Gezeitenturbine.

Für die im schottischen Edinburgh beheimatete Nova Innovation, ein Spezialist für kleine, am Meeresgrund stehende Anlagen der 100 kW-Klasse, wurden bereits mehrere Hauptwellenlagerungen konstruiert und geliefert – montiert im Spindel Service Center Schweinfurt.

 
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  • Lebenhan1965
    Schön zu hören,

    es gibt zukunftsfähige Arbeitsplätze in der Schweinfurter Industrie und nicht nur solche in sterbenden Branchen, wie der konventionellen Autoindustrie.
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  • jhuller@gmx.de
    Ein tolles Projekt!

    Das Märchen, dass Deutschlands Wohlstand alleinig von der Autoindustrie abhängen würde, will uns ja auch nur die wichtigtuerische Autolobby erzählen. Ein zweifelhaftes Argument bei 4,7% Anteil am BIP. Es soll aber tatsächlich Leute geben, die das glauben.

    Sicher mag das lokal Verwerfungen geben, dort wo die Autoindustrie konzentriert ist, aber gesamtwirtschaftlich ist das nicht das Ende der Zivilisation. Das wollte uns vor 40-50 Jahren der Kohlebergbau ebenfalls weis machen. Jetzt sind die bedeutungslos mit ihren 20Tsd Beschäftigten. Ebenso die Stahlindustrie. Wir sind trotzdem nicht im Elend versunken.

    Daher: Deutschland ist immer noch innovativ. Und es wäre es noch mehr, wenn man mehr zulassen würde. Photovoltaik, Windkraft, etc. alles deutsche Ingenieurleistungen, leider machen dort tw. andere das Geschäft durch verfehlte Politik, die lieber die alten Kumpel beschützen möchte. So wie Laschet, der letzte Kohlekumpel, der den Schuss noch nicht gehört hat...
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