Sie hatte nicht wissen wollen, ob es ein Bub oder ein Mädchen wird. Es war so schwierig gewesen, schwanger zu werden, jetzt freute sich Elke H. einfach nur auf das Kind. Doch dann, in der 37. Woche, plötzlich Blutungen. Ihr Mann, Fernfahrer, war auf Tour in Holland. Die Mutter ordnete an: Ab ins Bett. Sicherheitshalber ließ sich Elke ins Krankenhaus Werneck fahren. Da fiel ihr auch ein, dass sie das Kind seit dem Abend zuvor nicht mehr gespürt hatte. Die Hebamme konnte keinen Herzschlag feststellen.
„Ich habe gleich kapiert, was los ist“, sagt Elke H. Dabei macht sie nicht den Eindruck, besonders pessimistisch zu sein. Im Gegenteil: Elke H., heute 32 Jahre alt, wirkt wie ein ausgesprochen fröhlicher Mensch. Hinter der randlosen Brille blitzen lebhafte Augen, ihr wuscheliger Lockenschopf steht kaum einen Moment still. Aber damals, am 11. Mai 2011, hatte es keinen Sinn, die Augen vor dem Offensichtlichen zu verschließen. Von Werneck ging es ans Leopoldina in Schweinfurt. Dort wurde die Geburt eingeleitet. Elke wusste, das Kind würde tot zur Welt kommen. Und sie wusste, dass sie es unbedingt sehen wollte.
Es war ein Bub. Elke und ihr Mann hatten sich für diesen Fall zwei Namen zurechtgelegt. „Aber als ich ihn im Arm hielt und er noch so schön warm war, wusste ich: Das ist mein Simon“, erzählt Elke H. Sie hat diese Minuten genossen und zu ihrer Mutter gesagt, „Mama, der ist ja richtig schön.“ Dann nahm die Schwester Simon, wog und maß ihn (er wog 2640 Gramm und war 52 Zentimeter groß), legte ihm eine Windel und einen Strampler an. Darüber wunderte sich Elkes Mutter. Windel und Strampler für ein totes Baby? „Natürlich kriegt er eine Windel an“, erwiderte die Schwester resolut. Dafür ist Elke H. heute noch dankbar. „Das hat schon total gut geholfen. Ich habe ihn die ganze Zeit bei mir gehabt und ihm erzählt, wie sein Kinderzimmer ausgesehen hätte.“
Die ganze Zeit hoffte sie, dass ihr Mann endlich kommen und Simon noch sehen würde. Andreas H. brach seine Tour bewusst nicht ab. Er fuhr den Lkw noch nach Hause auf den Hof seines Arbeitgebers, bevor er ins Krankenhaus kam. „Ich hätte nur einen Unfall gebaut, wenn ich mich in Holland in einen Mietwagen gestürzt hätte und heimgerast wäre“, sagt er.
Er kam noch rechtzeitig. Zuerst traute er sich nicht, Simon in den Arm zu nehmen. Elke ermutigte ihn: „Du kannst ihn ruhig nehmen!“ Elke machte eine ganze Reihe Fotos von Simon. „Er hatte ein Gesichtchen wie ein alter Mann.“ In einem Nebenzimmer, ein Stück weg vom Kreißsaal („Ich wollte nicht hören, wie Kinder auf die Welt kommen.“) konnte das Paar sich allmählich verabschieden. Bis Elke bereit war zu sagen, „so Simon, jetzt gehst du deinen Weg, und wir gehen unseren“.
Es ist dennoch ein gemeinsamer Weg geworden, denn in Gedanken ist Simon immer bei Elke. Zum Gespräch in der Redaktion hat sie ein großes hellblaues Fotoalbum mitgebracht. Eines, wie sie der Handel anbietet, damit Eltern das Heranwachsen ihrer Kinder dokumentieren können. Als Elke das Album im Geschäft sah, fand sie es wunderschön. Zuerst hatte sie Angst, dass darin Kapitelüberschriften stehen würden wie „Mein erster Schritt“. Aber das war nicht der Fall, und so wurde das Album nicht zum Zeugnis des Heranwachsens, sondern zum Wegbegleiter der Trauer. Darin sind die Bilder von Simon. Und von der Simon-Maus.
Die Simon-Maus ist ein kleines Plüschtier, und sie ist immer dabei. Sie war sogar in der Kirche bei Simons Beerdigung im Heimatort dabei. „Sie ist für uns ein Familiensymbol geworden“, sagt Elke H. Mit der Simon-Maus unternimmt das Paar die Ausflüge, die es vielleicht mit Simon gemacht hätte. Zum Beispiel an seinem ersten Geburtstag in den Nürnberger Zoo. „Früher hätte ich mir Gedanken gemacht, was die Leute denken, wenn Erwachsene mit einem Kuscheltier rumlaufen. Aber an dem Tag war's mir egal, und wenn jemand gefragt hätte, hätte ich's ihm erzählt.“
Doch bis dahin war es ein weiter Weg. Schon das Heimkommen aus der Klinik machte Elke Angst. Da war dieses Kinderzimmer, das nun leer bleiben würde. Aber ihr Mann hatte Simons Deckchen über die Wickelkommode gebreitet und eine Kerze angezündet. „Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut“, sagt Elke, „plötzlich was das Heimkommen kein Problem mehr.“
Die zweite große Hürde war die Beerdigung. Als Elke H. davon erzählt, ist das einer der wenigen Momente, in denen sie den Schmerz erwähnt. „Ich hatte so geheult, dass ich dachte, ich stehe das nicht durch. Mein Mann hat den Sarg getragen, und ich dachte, wer hält mich? Aber dann habe ich gesagt, wenn mein Mann es schafft, das Särgle zu tragen, schaffe ich es, nebendran zu gehen“, sagt Elke H., und nickt noch einmal entschlossen. „Und als wir aus der Kirche traten, kam die Sonne raus. Da wusste ich, das ist ein Signal von Simon: Mir geht's gut.“ Dass das ganze Dorf da war, hat ihr Kraft gegeben: „Alle hatten sich mit uns gefreut, dass wir ein Kind kriegen, jetzt sollten sie auch mit uns Abschied nehmen.“
Während Elke berichtet, sitzt Andreas H. still daneben. Ab und zu nickt er, als durchlebe er die Ereignisse von damals noch einmal. Er wirkt ein bisschen wie ein Gegenentwurf zu seiner Frau. Sie quirlig, aktiv, beredt. Er schweigsam, ruhig, bedächtig. Und so sind sie anfangs auch ganz unterschiedlich mit ihrer Trauer umgegangen. „Ich wollte drauf angesprochen werden, ich wollte reden“, sagt Elke H. Er wollte das nicht. „Ich dachte, hoffentlich halten wir das durch“, sagt Elke.
Sie gaben ein gemeinsames Ziel aus: „Jeder soll trauern, wie er will, aber wir finden einen Punkt, wo wir uns treffen.“ Heute haben sie einen Weg gefunden, wie sie gemeinsam zurechtkommen – auch mit Hilfe von Internetseiten wie www.sternenkinder.de, einer Trauergruppe und Berichten von Menschen, denen ähnliches widerfahren ist. Der Schlagersängerin Michelle, zum Beispiel, die ihren Schmerz in einem Lied verarbeitet hat. „Das spiegelt genau wider, was ich auch fühle“, sagt Elke. Oder Hardy Krüger junior, dessen Sohn mit acht Monaten am plötzlichen Kindstod starb.
Vielleicht aber fanden die beiden diesen gemeinsamen Weg, weil Elke immer wusste, dass auch Andreas tief getroffen war. Vielleicht auch, weil Andreas es dann doch geschafft hat zu reden. Oder besser: zu schreiben. Elke hatte begonnen, Gedichte für Simon ins Album zu schreiben. Und irgendwann konnte sie Andreas bewegen, es auch zu versuchen. Heraus kamen einfache, zutiefst bewegende Zeilen. „Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut“, sagt Elke noch einmal, und grinst.
Elke H. hat immer ein Foto von Simon dabei. Sein Grab ist immer möglichst bunt geschmückt, mit einer Solarleuchte, mit Blumen, Luftballons, Windrädchen. „Er soll die Farben kennenlernen.“ Die Wickelkommode daheim ist inzwischen völlig zugebaut mit Bildern, Andenken, Spielzeug, Plüschtieren. Und immer brennt ein Licht darauf. „Simon wird immer seine Ecke haben“, sagt Elke H. „Wir sind eine andere kleine Familie. Er lebt mit uns und ist das brävste Kind.“
Einen Satz, den viele Mütter hören, die ein ungeborenes Kind verloren haben, bekam auch Elke H. gesagt: „Ihr seid noch jung, ihr kriegt wieder ein Kind.“ Und wie viele andere Mütter fand sie ihn nicht hilfreich. „Ich hatte von dem Thema nie vorher gehört, und jetzt stellte ich fest, dass das gar nicht so selten passiert“ ,sagt Elke.
Sie kam in Kontakt mit Müttern, die ihr Kind in einem früheren Stadium der Schwangerschaft verloren hatten. Als noch kein Strampeln zu spüren war. Zuerst wollte Elke H. gar nichts über das Thema Stillgeburten hören – „mein Kind hatte ja noch gelebt“. Aber jetzt sind sie alle für sie gleich: „Es ist immer ein Kind, und es ist immer zu früh.“
Elke und Andreas H. nehmen sich bewusst und selbstverständlich die Zeit, die sie brauchen. Gesten und Rituale des Erinnerns und der Verbundenheit, wie das Paar sie für sich gefunden hat, helfen auch vielen anderen Eltern. Und viele Eltern machen auch die Erfahrung, dass Außenstehende irgendwann Signale geben, dass es nun auch mal genug sein könnte mit der Trauer. Eine Mutter, die ihr Kind in der 17. Woche verlor, schreibt: „Gerade wenn für alle wieder ein Stück Normalität eingekehrt ist, ist es das für einen selbst noch lange nicht, denn plötzlich überkommt einen so viel Traurigkeit, und die Gefühle fahren Achterbahn. Mal ist man voller Wut, dann versinkt man in Selbstmitleid, und es ist eben nichts mehr so wie vorher.“
Immer wieder wird in Gesprächen mit Eltern deutlich, dass zum Trauern von Anfang an ein Stück Selbstbehauptung gehört. Gegen die Unsicherheit Außenstehender, gegen ihren – nicht immer unausgesprochenen – Wunsch, dass möglichst bald wieder unbeschwerter Alltag einkehren solle, gegen Gefühllosigkeiten wie „ist doch gar nicht so schlimm“ oder „vielleicht war es besser so“. Eine Mutter bringt es auf den Punkt: „Sobald man ein Kind erwartet, gehört es zur Familie dazu. Wenn der Verlust des schon lieb gewonnenen Kindes ärztlich diagnostiziert wird, beginnt eine andere Art der Mutterschaft. Das Muttersein hört ja nicht durch den Verlust des ungeborenen Kindes einfach auf.“