
Gerhard Haase-Hindenberg hat mit seinem erzählenden Sachbuch "Ich bin noch nie einem Juden begegnet …" viel Aufmerksamkeit erregt. 50 Lebensgeschichten von Jüdinnen und Juden, die heute in Deutschland leben, eröffnen unbekannte Perspektiven, die den Leser und die Leserin zur Erkenntnis bringen: Ich weiß jetzt, wie Juden bei uns leben. Ich weiß, es gibt nicht den Juden, der alle Klischees bedient, sondern es gibt ganz verschiedene Menschen, die Juden sind, die zufrieden hier leben und den Weg zu ihrer jüdischen Identität gefunden haben.
Das war die Motivation für die Initiative gegen das Vergessen mit ihrer Sprecherin Johanna Bonengel, Haase-Hindenberg einzuladen. Dem Celtis-Gymnasium und der Buchhandlung Collibri gefiel die Idee, besonders junge Menschen für das Thema zu sensibilisieren. Johanna Bonengel, Moderatorin der sehr gut besuchten Lese-Gesprächs-Veranstaltung, machte die Spannung zwischen Unwissen über das Jüdischsein und dem wachsenden virulenten Antisemitismus deutlich. Das Buch von Haase-Hindenberg sei ein guter Weg, diese Spannung abzubauen. Antisemitismus dürfe den emotionalen Zugang zu jüdischen Menschen nicht zunichte machen.
Birgit Weiß, Schulleiterin am Celtis-Gymnasium, betonte in ihrer Begrüßung, dass es ihr gefallen habe, Schüler aktiv in das Projekt einzubinden, damit sie sich auf eine Expedition zu den Jüdinnen und Juden, die hier leben, einlassen. Sebastian Soja und Laurenz Albert hatten sich intensiv in die Lebensgeschichten eingelesen und viele Fragen und Probleme überlegt, mit denen sie Haase-Hindenberg konfrontierten.
Panoramabild des jüdischen Lebens in Deutschland
Gerhard Haase Hindenberg, in Schweinfurt geboren, in Berlin lebend, gelernter Schauspieler (mit Engagements auf der Schweinfurter Theaterbühne), ist seit etlichen Jahren ein Meister des Erzählens geworden. Sein Genre: Lebensgeschichten erzählen, mit Menschen sprechen, ihnen genau zuhören, genau recherchieren. So werden Menschen in seinen Portraits lebendig. Er ist viel unterwegs, kennt viele Menschen, viele Temperamente, unterschiedliche Biografien, Interessen, Hoffnungen, Lebenslust und Lebensverdruss.
Eine Menge von Beobachtungen und Geschichten hat der Autor zu einem Panoramabild des jüdischen Lebens in Deutschland verwebt. Wir lesen und hören Geschichten von Überlebenden der Schoa, von Rückkehrern nach dem Krieg, von Jüdinnen, die im Kindergarten oder im Seniorenheim arbeiten, Geschichten von amerikanischen und russischen Einwanderern, Künstlerinnen, Bloggerinnen, Gläubigen und Nichtgläubigen.
Wenn man die Geschichten liest, läuft das Kopfkino. Man sieht die Menschen vor sich; sie werden nahe. Sei es Marion Schubert mit ihrer Odyssee nach dem Krieg, sei es Manfred Levy und seine Ausgrenzungserlebnisse in der Kleinstadt, sei es Amanda, die über den Weg des koscheren Essens das jüdische Leben lernt, sei es die 91-jährige Lissi Kuhn, die "endlich zu Hause" angekommen ist. Das Leben wird gefeiert – trotz Halle, Hanau oder documenta 15.
Beitrag zu dem Jubiläumsjahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland
Dabei liest Haase-Hindenberg schnell und selbstsicher. Nicht immer gelingt ihm die intendierte große Geste. Akustische Probleme wischt er zur Seite. Er liest mehr für sich und für die Menschen, von denen er erzählt, als für sein Publikum. Manche Problemfelder sieht er nicht so gerne: das Gefühl der Unsicherheit, das Schweigen über das Erlebte, der Wunsch, sich möglichst nicht zu erkennen zu geben, die besondere Situation, in ein Land zurückzukehren, das Juden so viel Leid zugefügt hat, die Instrumentalisierung und Verharmlosung der antisemitischen NS-Vernichtungspolitik durch die Gegner der Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus.
Denn Haase-Hindenberg will vor allem mit seinen Lebensgeschichten den langen Weg jüdischer Menschen zu sich selbst erzählen, zu einem positiv besetzten Jüdischsein, das nicht von Angst geprägt ist.
Die Veranstaltung war ein guter Beitrag zu dem Jubiläumsjahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland.