
„Grüß Gott zur Mitternachtsvorstellung“ sagt der Mann aus der „Anstalt“ und läuft frohgemut durchs Publikum, Richtung Bühne. Es hat ein bisschen länger gedauert, bis Claus von Wagner der nicht ganz vollen Kulturhalle seine „Theorie der feinen Menschen“ präsentieren darf. Bei den Online-Karten gab es Verwirrung mit den Platznummern. Qualen durch Zahlen, zumindest Warteschlangen wie sonst vor griechischen Bankschaltern: Wenn das mal keine passende Einstimmung auf einen Kabarettabend ist, der sich ganz um die Räude des weltweiten Raubtierkapitalismus dreht.
Derzeit sorgt der Terror für Ablenkung, also befasst sich das smarte ZDF-Zugpferd erst einmal mit Paris (Djakarta, Istanbul…) und den Folgen: „Wir lassen uns unsere Freiheit nicht nehmen? Dann darf man nur nicht zwei Tage später für die Verschärfung der Vorratsdatenspeicherung sein.“ Erster Applaus brandet im Saal auf. Das rein militärische Vorgehen jetzt, in Syrien, das sei doch auch eine Form der Anerkennung der Terroristen: „Noch zwei Jahre und der IS hat einen Fifa-Vorstand und eine WM in Mosul.“
Vom Terror geht's dann nahtlos über zur Finanzkrise. Kabarett-Star von Wagner, 38, gibt sein alter Ego Claus Neumann, Sohn eines Wirtschaftsprüfers. Der desillusionierte Akademiker wird versehentlich in den Tresorraum einer Bank gesperrt, mit Zeitschaltuhr. Dumm, dass er am nächsten Tag einen Vortrag auf seinen verblichenen alten Herren halten soll. Zeit zum Grübeln und Recherchieren hat er nun genug. Es folgt die Abrechnung mit dem turbokapitalistischen Erzeuger. Der alte Neumann hat mit einem Dr. Gump Derivate schöngerechnet und Bankkunden geprellt. Derivate („Ableitungen“) sind die Wettscheine des Neoliberalismus, erfährt das Publikum. Abseits regulierter Börsen darf der Anleger auf Aufstieg oder Verfall von allem Möglichen wetten, Aktien, Rohstoffen, Edelmetalle. Oder, wie bei der Deutschen Bank, aufs vorzeitige Ableben versicherter Rentner.
Rund 70 Billionen Dollar beträgt das globale Bruttoinlandsprodukt, stellt Neumann fest. Gleichzeitig sind 700 Billionen Dollar als Derivate unterwegs, die als Finanzbomben Unsummen vernichten können – sobald jemand auf die Idee kommt, nach realem Gegenwert zu fragen. Das Heer der Kleinanleger zählt da kaum mehr als „Plankton in einem Meer von Finanzhaien.“ Was ist heutzutage Geld? Oft wirklich nur ein Schein. Früher bekam der Besitzer einer Dollarnote noch Gold versprochen. Heute heißt es: „In God we trust.“ Ein System, das vom Glauben an unendlichen Wachstum lebt, und dabei endlos Schulden weiterreicht: „Wenn sich zwei Brillenträger auf der Straße prügeln und müssen danach zum Optiker. Das ist Wachstum.“
Der Name des Programms dürfte eine Hommage an Thorstein Veblen sein: Schon 1899 hat der US-Soziologe seine „Theorie der feinen Leute“ veröffentlicht, mit der These vom Prestigestreben und „demonstrativen Verschwenden“ als Triebfeder des Kapitalismus. Dem Geltungskonsum hängt auch die Tochter von Dr. Gump nach, Spitzname „Lachsröllchen“, Hass- und Liebesobjekt vom Claus zugleich. Das Kammerspiel im dunklen Tresorraum hat aber auch Anleihen bei Dostjoweskis „Schuld und Sühne“: Wer sich zu den Pfandleihern dieser Welt begibt, wird schnell als Außenseiter eingekerkert.
Nur dank der Liebe besteht Hoffnung auf Wiederauferstehung. Der Gefangene der Bank droht am Ende zu ersticken: irgendwann fällt die Luftzfuhr aus. Was bleibt, ist der Glaube an wahre Werte statt Warenwerte, ans echte Leben, an Gutmenschentum, Ehrenamt, Frauenrechte, Asyl. Viel Applaus für Claus von Wagner als gutem Gewissen des deutschen Kabaretts. „Wir leben nicht über unseren Verhältnissen, wir besteuern unter unseren Möglichkeiten“ lautet sein Credo. Uwe Eichler