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Gerolzhofen
Scheiterhaufen und Stolpersteine: Dem Unrecht und dem Schrecken der Geschichte auf der Spur
Der Brunnen am Markplatz, mit Johannes Müller, vertriebener Protestant und Botschafter im 30-jährigen Krieg. In der Hand hält er die Friedensrolle. In der Hitlerzeit wurde dort, wie an vielen anderen Orten auch, eine Hitler-Linde gepflanzt. Diese wuchs aber nie so wirklich an.
Foto: Stefan Pfister | Der Brunnen am Markplatz, mit Johannes Müller, vertriebener Protestant und Botschafter im 30-jährigen Krieg. In der Hand hält er die Friedensrolle.
Annika Heigl
 |  aktualisiert: 18.11.2024 02:32 Uhr

Zu einer besonderen Themenführung lud das Kultur-Forum zusammen mit dem Historischen Verein am Tag des 9. Novembers ein. Evamaria Bräuer, Museums- und Stadtführerin in Gerolzhofen stellte bei diesem Gedenkrundgang durch die Altstadt die Begriffe Recht, Gerechtigkeit und Unrecht in Zusammenhang und regte an, darüber nachzudenken, wie wertebasiert und individuell doch jeder Einzelne diese Begriffe auslege und welchen Folgen dies für ganze Minderheiten haben könne.

So geschehen auch in Gerolzhofen. Scheiterhaufen und Stolpersteine als Zeichen begangenen Unrechts, dem unschuldige Menschen während der zurückliegenden Jahrhunderte immer wieder ausgesetzt waren, werden die Gruppe in den nächsten knapp zwei Stunden begleiten.

Seien es die verleumdeten Frauen und Männer, die als Hexenleute auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, oder die Lutheraner, die in der Zeit der Gegenreformation zur Umsiedlung gezwungen wurden, oder die Vertreibung der fast vollständigen jüdischen Gemeinde aus Gerolzhofen, die am 9. November 1938 in der Reichspogromnacht ihren Anfang nahm.

Menschen, Familien und ihre Schicksale

Bräuer erzählt am Ort des Geschehens, dem historischen Stadtkern, von Menschen, Familien und deren Schicksalen und zeigt, wo sie gelebt, geliebt und gewirkt haben. Einzelschicksale, mit doch durchdringender Schlagkraft und der Unfähigkeit Unrecht zu begreifen.

Evamaria Bräuer am Gedenkstein für alle jüdischen Mitbürger in der Dingolshäuser Straße. Die Novemberpogrome 1938 änderten das Leben der jüdischen Gemeinschaft dramatisch. Von 145 jüdischen Mitbürgern 1930 wurden die letzten Verbliebenen im April 1942 deportiert. Am 19. September 1942 war Gerolzhofen dann offiziell judenfrei.
Foto: Annika Heigl | Evamaria Bräuer am Gedenkstein für alle jüdischen Mitbürger in der Dingolshäuser Straße. Die Novemberpogrome 1938 änderten das Leben der jüdischen Gemeinschaft dramatisch.

Der Rundgang startet am Eulenturm, der Gedenkstätte, die an die Verbrennung von 261 Menschen (1615-1619) erinnert, die in der damaligen Zeit als Hexenleute qualvoll gefoltert und hingerichtet wurden. Wer als Hexe oder Hexer in der Folter oder dem Scheiterhaufen sein Schicksal fand, lag einer ganz abstrusen Bewertung zu Grunde, es konnte jeden treffen. Allen war jedoch eins gemeinsam: Diese Menschen waren anders. Anders in ihrem Denken, Glauben, nicht vollständig adaptiert in das bestehende System und gefährlich.

Die Amtsvogtei gegenüber, mit dem fest vermauerten Wappenstein Julius Echters von 1600, dient Bräuer als Basis für ein weiteres Unrecht, das Gruppierungen widerfahren ist, diesmal aufgrund ihres Glaubens. Die Protestantenvertreibung hat auch in Gerolzhofen ihre Geschichte und nahm vielen Menschen ihre Existenz und ihre Heimat. Insgesamt wurden 75 Familien aufgrund ihrer Religion vertrieben. Darunter die Familie von Balthasar Rüffer, einem späteren Bürgermeister von Schweinfurt.

Der Brunnen am Marktplatz gedenkt des Schicksals von Johannes Müller, der schon als Kind mit seiner Familie Gerolzhofen verlassen musste und in dem protestantischen Prichsenstadt eine neue Heimat gefunden hat. Ihm wurde für seiner herausragenden Tätigkeiten auch ein Element am Stadtbrunnen gewidmet.

Inschrift am Eulenturm zur Erinnerung hingerichtete Hexenleute. Entgegen der allgemeinen Auffassung wurden die Scheiterhaufen nicht am Eulenturm, sondern am Schießwasen erbaut. Zwischen 1615 und 1619 fanden 261 Männer, Frauen und Kinder auf dem Scheiterhaufen ihr qualvolles Ende. Denunziert, verachtet und willkürlich erwählt schürte das damalige Regime somit Angst und Schrecken, um alle nicht angepassten (Frei)Geister folgsam zu machen.
Foto: Annika Heigl | Inschrift am Eulenturm zur Erinnerung hingerichtete Hexenleute. Entgegen der allgemeinen Auffassung wurden die Scheiterhaufen nicht am Eulenturm, sondern am Schießwasen erbaut.

Vom Marktplatz aus sehen wir uns die Altstadt an und Evamaria Bräuer knüpft nahtlos an das nächste Verbrechen und Unrecht an, dass im 20. Jahrhundert der jüdischen Gemeinschaft in Gerolzhofen widerfahren ist. Wir stehen an einem Stolperstein, der vor dem ehemaligen Wohnhaus von Stefan Löbhardt liegt.

Mit fast 80 Jahren in Sicherheit gebracht

Sie berichtet von Abrahahm Prösldörfer, der am Marktplatz eine Metzgerei betrieb und 1941 einer der letzten Juden war, der die Stadt verlassen konnte. Mit fast 80 Jahren war es ihm noch gelungen, sich in die USA zu seiner Familie in Sicherheit zu bringen. Seine Metzgerei war sukzessive denunziert worden, bis er sie schließen musste.

Stolperstein am Marktplatz, zum Gedenken an Stefan Löbhardt. Elf Stolpersteine erinnern in Gerolzhofen an das Schicksal der Menschen, die ermordet, deportiert oder in den Suizid getrieben wurden.
Foto: Annika Heigl | Stolperstein am Marktplatz, zum Gedenken an Stefan Löbhardt. Elf Stolpersteine erinnern in Gerolzhofen an das Schicksal der Menschen, die ermordet, deportiert oder in den Suizid getrieben wurden.

Die nächste Station führt uns zum ersten Bethaus der jüdischen Gemeinde in der Weißen-Turm-Straße. Rings um das Bethaus hatten sich viele Juden angesiedelt. 1873 wurden dann die Niederlassungsbeschränkungen unter den Preußen erleichtert. Viele jüdische Familien kamen, eröffneten Geschäfte, deren Fassaden bis heute noch die Altstadt prägen. Das Bethaus wurde schnell zu klein und die Synagoge wurde in der Steingrabenstraße ersteigert. In der Nacht des 9. November 1938 brannten in den großen Städten schon die Synagogen. In Gerolzhofen wurde am Folgetag die Synagoge geplündert und zerstört.

Die Synagoge von 1873, in der Steingrabenstraße. Sie wurde nicht in Brand gesetzt, weil man ein Übergreifen der Flammen auf die Nachbargebäude befürchtete. Dennoch wurde sie geplündert, Holzbänke und Toraschrein am nahegelegenen Sportplatz (am heutigen Geomaris) verbrannt.
Foto: Annika Heigl | Die Synagoge von 1873, in der Steingrabenstraße. Sie wurde nicht in Brand gesetzt, weil man ein Übergreifen der Flammen auf die Nachbargebäude befürchtete.

"Unrecht ist geschehen, Unrecht können wir nicht wiedergutmachen, aber wir können die Verantwortung dafür tragen, dass es nicht wieder passiert", schließt Evamaria Bräuer diese Station ab. Sie führt die Gruppe weiter zur letzten Station, dem Gedenkstein in der Dingolshäuser Straße.

1988 wurde im Rahmen des Gedenkens an die Pogromnacht 1938 ein Mahnmal errichtet, das uns nicht vergessen lassen soll, zu welchem Unrecht Menschen fähig sein können und an alle vertriebenen, deportierten und ermordeten jüdischen Mitbürger erinnern.

 
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  • Albert Bauer
    Der Gedenkstein steht in der Schuhstrasse, nicht in der Dingolshäuser Straße. Wieder mal schlecht recherchiert.
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  • Albert Bauer
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