Man kann ältere Russlanddeutsche nicht einfach so nach ihrer Heimat fragen. Jedenfalls nicht, wenn man eine kurze, einfache Antwort haben will. „Wir haben schon viele Heimaten gehabt“, sagt zum Beispiel Alexander Kessler. Kessler ist mit 78 Jahren der jüngste der fünf Damen und Herren, die sich im Bürgertreff am Deutschhof zum Interview versammelt haben. Der Älteste, Leopold Kinzel, wird in ein paar Monaten 90. Das Thema des Gesprächs hat Luba Hurlebaus, stellvertretende Vorsitzende des Integrationsbeirats und selbst Russlanddeutsche, vorgeschlagen: Was machen Menschen mit Migrationshintergrund im Alter?
Die fünf Herrschaften im Bürgertreff machen gemeinsam Musik, doch davon später. Zunächst geht es um eine weiter gefasste Antwort auf die Eingangsfrage. Während viele Angehörige der ersten Gastarbeiter-Generation im Rentenalter in ihre ursprüngliche Heimat zurückkehren, bleiben die Russlanddeutschen hier. In den Landstrichen, die sie einst als Heimat betrachteten, hat man sie zu Fremden erklärt. Nach einem wechselvollen Leben zwischen Ukraine und Sibirien, zwischen Flucht und Vertreibung, sind sie nun in Deutschland angekommen, jenem Land, aus dem ihre Vorfahren stammten. Es gibt keinen anderen Ort mehr, an den sie zurückkehren könnten oder wollten. „Wir haben so viel erlebt, aber das hier – besser geht es nicht“, sagt Kessler, und die anderen in der Runde nicken.
„Sie wollen sehen, ob wir integriert sind“, sagt die 83-jährige Lydia Steinlich-Renz listig. Schließlich lässt die Sprachregelung „Menschen mit Migrationshintergrund“ bewusst Raum für die Frage, ob diese Menschen, die jetzt zwar hier leben, vielleicht doch lieber woanders wären. „Also ich sehne mich nicht zurück“, sagt Lydia Steinlich-Renz. Für sie ist Heimat heute, nach fast 40 Jahren, Schweinfurt.
„Heimat ist da, wo deine Wiege stand, heißt es doch“, entgegnet Alexander Kessler. „Hier geht es uns gut, aber Heimat. . .?“
Die Lebenswege dieser fünf Menschen sind höchst unterschiedlich verlaufen, und doch standen sie unter einem starken gemeinsamen Vorzeichen. Die fünf sind Nachfahren jener deutschen Siedler, die ursprünglich auf Betreiben der in Stettin geborenen Zarin Katharina II. im 18. und 19. Jahrhundert im Zarenreich ansässig wurden, vor allem an der Wolga und am Schwarzen Meer. Ihre Dörfer und Städte trugen deutsche Namen wie Neuenburg, Rosenbach oder Neuhorst. Die Familien sprachen Deutsch, oft noch in der schwäbischen Färbung ihrer Vorfahren. Sie sangen deutsche Lieder, pflegten deutsches Brauchtum. Die fünf haben allesamt die Wirren des 20. Jahrhunderts und vor allem die Willkür des Sowjetstaats am eigenen Leibe erfahren: Ausgrenzung, Deportation, Gefangenschaft, Hunger, Zwangsarbeit. „Sie haben Hitler und Stalin überlebt“, sagt Luba Hurlebaus.
„Alle Deutschen nach Deutschland“
Während Alfred Renz, 82, sich schon 1945 zu Fuß von Polen nach Schleswig-Holstein durchschlagen konnte und seither immer in der Bundesrepublik gelebt hat, ist Lilli Ignatz, vor 82 Jahren in Murmansk geboren, erst seit neun Jahren hier. Bis zum Krieg lebte sie auf der Krim. Als die Mutter verhaftet wurde, kam sie „in ein spezielles Kinderheim“ in Kasachstan, wo man die Russlanddeutschen systematisch hungern ließ. „Wir waren alle sehr mager damals“, sagt Lilli Ignatz. Später heiratete sie einen russischen Offizier, ihre beiden Kinder leben heute in St. Petersburg und in Murmansk. „Aber sie kommen mich oft besuchen“, sagt sie.
Alfred Renz und seine Frau Lydia Steinlich-Renz stammen beide aus Wolhynien, einem Gebiet in der Ukraine, in dem viele Deutsche lebten. Sie beide wurden 1943/44 aus Wolhynien in den „Warthegau“ ausgewiesen, ein Gebiet im von Deutschland besetzten Polen, als in der Sowjetunion für kurze Zeit die Parole „Alle Deutschen nach Deutschland“ ausgegeben wurde.
Doch während Alfred zur Hitler-Jugend eingezogen wurde und schließlich im Westen landete, wurde die 16-jährige Lydia mit zwei kleinen Geschwistern im Februar 1944 nach Osten verschleppt. Die Mutter war kurz nach der Geburt der jüngsten Schwester gestorben, den Säugling musste Lydia in einem Säuglingsheim zurücklassen. „Wir haben sie später in der DDR wiedergefunden, aber das ist eine ganz andere Geschichte“, erzählt Lydia. Sie schaffte die 4000 Kilometer wieder zurück, doch dann wurde sie, in Sichtweite der deutschen Grenze, von den Russen eingeholt und – wie Hunderttausende weitere Russlanddeutsche – nach Sibirien verschleppt.
Lydia und Alfred Renz haben sich erst viel später kennengelernt, über eine Bekanntschaftsanzeige in „Volk auf dem Weg“, dem offiziellen Organ der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland. Da lebte sie bereits in Schweinfurt und er in Nordrhein-Westfalen. Geheiratet haben die beiden 1980.
Leopold Kinzel wurde 1922 in der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen geboren. Bis zur zehnten Klasse konnte er eine deutsche Schule besuchen, 1940 wurde er mit 17 in eine Offiziersschule der Sowjetarmee gesteckt, aber ein Jahr später als Deutscher wieder entlassen. Als er an die Wolga zurückkehrte, war seine Familie schon nach Sibirien deportiert worden. „In den verlassenen Dörfern liefen Hunde und Vieh einfach so herum. Der Staat hat sich selbst damals viel Schaden zugefügt“, erzählt Kinzel.
Er kann sich an jedes Datum in seinem Leben erinnern. Als blinder Passagier fuhr er auf Kohlewaggons nach Sibirien, wo er am 3. September 1941 ankam. Einen Monat lang suchte er in dem riesigen, unwegsamen Gebiet seine Eltern, und er fand sie tatsächlich – am 12. Oktober in der Altai-Region. Drei Monate später wurden er, sein Vater und sein Bruder in die „Arbeitsarmee“ eingezogen – was ein Leben in stacheldrahtumzäunten Lagern unter gewöhnlichen Kriminellen, Zwangsarbeit und Hunger bedeutete. Schon der zweiwöchige Transport dorthin war eine Tortur: Die Menschen wurden in verschlossenen Viehwaggons in den Ural nördlich des Polarkreises gebracht. „Für die Russen waren wir alle Verbrecher“, erzählt Kinzel. „Die Leute sind damals massenhaft verhungert. Von den 18 000 Deutschen in den Lagern in unserem Gebiet überlebten nur 3500.“
Den Bruder nicht wiedererkannt
Wie Kinzel landete auch Alexander Kessler, geboren 1934 in der Nähe von Odessa, in den Arbeitslagern Sibiriens. Zwölf Jahre lang schuftete er in den Wäldern, die die Sowjets von den Zwangsarbeitern roden ließen. Der Vater war verschleppt worden, als er zwei Jahre alt war. Kesslers biografischer Irrweg bringt es vielleicht auf die meisten Stationen: Ukraine, Hitlerdeutschland, Polen, Sibirien, Kasachstan, Moldawien, Deutschland. Vor 34 Jahren kam er dann im Übergangslager Friedland an und wurde gefragt, wo in Deutschland er denn leben wolle. Kessler, eines von sieben Geschwistern, wusste, dass einer seiner Brüder in Nürnberg lebte. Also schickte man ihn nach Schweinfurt. Später ist er dann nach Nürnberg gefahren, um seinen Bruder wiederzusehen. Er hat ihn nicht wiedererkannt.
Alexander Kessler nimmt zwei alte Schwarz/Weiß-Fotos aus seiner Brieftasche. Eines zeigt sein Dorf in Sibirien, eine Barackensiedlung zwischen frisch gerodeten Hügeln. Das andere zeigt drei seiner Brüder auf einer Bank vor der Hütte beim Musizieren mit Gitarre, Mandoline und Balalaika. Drei ernste junge Männer in Schirmmützen und den typisch russischen hochgeknöpften Blusen.
Das Musizieren hat Alexander Kessler sein ganzes Leben begleitet. Wie die anderen in der kleinen Gruppe auch. „Ich mache seit 80 Jahren Musik“, sagt Leopold Kinzel, der das siebenköpfige, ziemlich fröhliche Ensemble leitet, das immer bei den Seniorennachmittagen der Landsmannschaft auftritt. „Wir sind eine Band“, sagt Lydia Steinlich-Renz und grinst. In der Tat: Zum Fototermin bringen die fünf ihre Instrumente mit und zeigen, was sie können – flotte Polkas, russisch klingende Weisen, aber vor allem alte deutsche Volkslieder. „Drunten im Tal“ zum Beispiel. „Das haben unsere Vorfahren in Russland bewahrt. Das ist in Deutschland längst vergessen“, sagt Leopold Kinzel.
Wie die Daten seines Lebens hat Kinzel jede Tonart, jeden Akkord im Kopf. Er sagt sie auf italienische Art an, wie das auch in Russland üblich ist: „Sol minor“ zum Beispiel, also g-Moll. Die Stücke braucht er nicht anzusagen. Kinzel spielt einen halben Takt vor, und schon stimmen die anderen ein. Zupfen auf Mandolinen, Balalaikas und Gitarren, blasen die Mundharmonika und singen mehrstimmig dazu. „Du liegst mir am Herzen“ oder „Heimat, wie bist du so schön“.
Diese Lieder haben sie ihr ganzes Leben begleitet. Vielleicht weil sie den meisten Deutschen in Deutschland heute nichts mehr bedeuten, vielleicht auch, weil sich ihre Lebenswege so drastisch von denen der Einheimischen unterscheiden: Die kleine Gruppe der musizierenden Russlanddeutschen bleibt am liebsten unter sich. So wie einst in Russland eben auch. „Wir sind wieder eine Clique“, sagt Lydia Steinlich-Renz. Ihre heute 57-jährige Tochter, erzählt sie, arbeitet hier im Krankenhaus. „Sie ist beliebt, aber auch sie hat keine einheimischen Bekannten. Niemand lädt sie ein. Wenn die Menschen hören, dass wir aus Russland kommen, dann schrecken sie zurück.“
Die lange Geschichte der Deutschen in Russland
Schon seit dem Mittelalter lebten Deutsche in russischen Städten. Als Zar Peter I. zu Beginn des 18. Jahrhunderts die neue Hauptstadt St. Petersburg erbauen ließ, kamen vor allem Handwerker aus Deutschland nach Russland.
Den größten Einfluss auf die Ansiedlung von Deutschen hatte die in Stettin geborene Zarin Katharina II. (1729–1796), die gezielt unbewohnte Gebiete ihres Reichs kolonisierte.
Den Siedlern gewährte sie eine Reihe von Privilegien wie Religionsfreiheit, Befreiung vom Wehrdienst, Selbstverwaltung auf lokaler Ebene mit Deutsch als Sprache, finanzielle Starthilfe und 30 Jahre Steuerfreiheit.
Die Zarin warb in deutschen Fürstentümern in Zeitungen und Kirchen. Im Manifest Katharinas von 22. Juli 1763 heißt es: „1. Verstatten Wir allen Ausländern, in Unser Reich zu kommen, um sich in allen Gouvernements, wo es einem jeden gefällig, häuslich niederzulassen“. Wer das Reich wieder verlassen wollte, der durfte das, er war aber verpflichtet „von ihrem ganzen in Unserem Reiche wohlerworbenen Vermögen einen Theil an Unsere Cassa zu entrichten“.
Schon in den nächsten Jahren wanderten 30 000 Deutsche ins Zarenreich ein, vor allem aus dem Rheinland, aus Nordbayern und Baden, aus Hessen und der Pfalz. Wie sich herausstellte, durften sie aber durchaus nicht siedeln „wo es einem jeden gefällig“, sondern wurden größtenteils an die Wolga geschickt, um dort die Wildnis urbar zu machen.
Die Anfänge waren hart, Klima, Seuchen und Übergriffe von Reiternomaden dezimierten anfangs die Bevölkerung. Bis Ende des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl der Siedler dennoch auf 400 000 an. Das zweite Hauptsiedlungsgebiet war das Schwarzmeergebiet in der von Russland eroberten Ukraine, hier lebten Ende des 19. Jahrhunderts 270 000 Deutsche. Im Zuge der Abschaffung der Leibeigenschaft unter Alexander II. wurden ab 1870 die Privilegien der Siedler abgeschafft. Aber obwohl Russifizierungsmaßnahmen eine Auswanderungswelle auslösten, lebten 1914 2,4 Millionen Deutsche im Zarenreich.
Mit den Weltkriegen, der Revolution und vor allem der Herrschaft Stalins gingen unzählige Schikanen für die Russlanddeutschen einher. Sie galten kollektiv als Saboteure. Ab 1941 wurden sie systematisch nach Kasachstan und Sibirien in Zwangsarbeiterlager deportiert. Bis 1956 unterstanden sie – völlig rechtelos – einer Sonderverwaltung. 1964 wurden sie rehabilitiert, in der Folgezeit reisten die ersten Familien aus. Die größte Welle der Russlanddeutschen erreichte nach dem Zerfall der Sowjetunion in den Jahren 1989 bis 1994 die alte Heimat. Heute leben nach einer Volkszählung aus dem Jahr 2010 noch knapp 90 000 Deutsche in den Gebieten Altai und Nowosibirsk (Quelle: Wikipedia).