Unvorstellbar, dass es Zeiten gegeben haben soll, in denen die stille Andacht dieser Figuren niemanden berührte. Aber in gut 500 Jahren hat sich der Geschmack der Zeit eben unzählige Male geändert, und die in sich gekehrten Gesichter, die dramatischen Faltenwürfe, die sehnigen Gliedmaßen der Madonnen und Heiligen von Tilman Riemenschneider galten lange als hoffnungslos unmodisch.
Bis der Tapeten- und Steingut-Fabrikant Wilhelm Sattler und seine kunstsinnige Frau Catharina, jüngste Tochter des Malers Conrad Geiger, in den 1820er Jahren anfingen, auf Schloss Mainberg eine bedeutende Kunstsammlung zusammenzutragen – darunter sechs Figuren von Riemenschneider. Als die Sammlung Ende des 19. Jahrhunderts aufgelöst wurde, hob in Schweinfurt niemand die Hand. Die Skulpturen gingen nach München und Würzburg – wo eine Anna Selbdritt und zwei Leuchterengel heute im Mainfränkischen Museum verwahrt werden.
Die beiden Engel, geschaffen um 1502, sind nun für ein paar Monate nach Schweinfurt zurückgekehrt – als Leihgabe an die Kunsthalle im Rahmen der Aktion „Kunst geht fremd“, bei der vier Museen Leihgaben untereinander austauschen. Gegengabe aus Schweinfurt ist der so genannte Echter-Tisch, eine aufwändig mit Holz- und Metall-Einlegearbeiten gestaltete Tischplatte von 1610, die einst dem Fürstbischof und Gegenreformator Julius Echter gehört hat.
Wenn Engel reisen, ist einiges zu beachten. Zumindest wenn es welche sind, die Riemenschneider geschaffen hat, und deren jede mit 500 000 Euro versichert ist. Wenn die Reise auch noch am Mainfränkischen Museum beginnt, führt sie erst einmal über Kopfsteinpflaster – das Gerüttel auf der Ladefläche eines Lieferwagens kann man sich leicht vorstellen.
Spezialisierte Speditionen verfügen zwar über besonders gefederte Fahrzeuge, doch die wiederum passen meist nicht durch die Tore der Festung Marienberg, erzählt Susanne Wortmann, Restauratorin am Mainfränkischen. Da die Reise nach Schweinfurt nun aber fast ein Katzensprung ist, löste Kunsthalle-Technikchef Jürgen Benini das Problem ziemlich pragmatisch. Er mietete einen Lieferwagen und lud kurzerhand 500 Kilo zusätzlichen Ballast hinein. So lag das Auto ziemlich träge auf der Straße, als die Engel in ihrer Klimabox am Dienstag ihren Ausflug in Begleitung von Restauratorin Susanne Wortmann begannen. Würzburger Riemenschneider-Figuren gehen übrigens höchst selten auf Reisen. „Umso dankbarer sind wir hier in Schweinfurt“, sagt Andrea Brandl, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Kunsthalle.
Kaum in Schweinfurt angekommen, fuhr Susanne Wortmann wieder heim, die Engel blieben erstmal über Nacht in ihrer Box, um sich zu akklimatisieren. „Wir haben uns zuvor versichert, dass das Klima im Mainfränkischen und in der Kunsthalle nahezu identisch ist“, sagt die Restauratorin. Klima, das heißt für Museumsleute Luftfeuchtigkeit. Und die muss immer um 52 Prozent liegen, sonst droht Schimmelbefall. Ein Problem, das sie im Mainfränkischen bei Riemenschneider schon einmal gehabt haben, erzählt die Restauratorin. Doch die Messgeräte bestätigen: Das Klima passt, die Engel können aus der Kiste.
Wenn die Techniker den Deckel von einer Klimakiste heben, hat das immer etwas von der Öffnung eines Pharaonen-Sarkophags – als schlummerte hier ein sagenumwobener Schatz. Für Susanne Wortmann ist dieser Schatz nicht ganz so geheimnisvoll. Sie weiß zwar nie, ob während der Reise etwas passiert ist, aber ihre Schützlinge kennt sie genau. Jeden Riss, jeden Fleck, jeden Rest einer längst verschwundenen Farbfassung hat sie dokumentiert. „Ich gehe eigentlich immer davon aus, dass alles gut geht, aber sollte tatsächlich etwas passieren, dann sehe ich das sofort.“
Nachdem sie die Engel von ihrer Umhüllung aus Luftpolsterfolie und Tyvek befreit hat, nimmt die Restauratorin sie also genau in Augenschein. Tyvek ist ein synthetisches Gewebe, wasserdicht und atmungsaktiv. Während sie das faltenreiche geschnitzte Holz inspiziert, erklärt Susanne Wortmann, was sie sieht: Ein Riss hat mit einem Ast zu tun und war vermutlich immer schon da. Ein anderer ist längst fotografiert. Die Löcher im Rücken eines der Engel hat irgendein Vorbesitzer gebohrt, vermutlich, um die Figur zu fixieren. Und die dunklen Flecken auf der anderen Figur, die aussehen wie Stockflecken, sind auch uralt. In 500 Jahren gibt es eben reichlich Gelegenheit für ein so empfindliches Stück Holz, Schaden zu nehmen.
Es sind keine neuen Schäden aufgetreten, die Engel können in die Vitrine. Susanne Wortmann hebt sie mit ebenso behutsamem wie routiniertem Griff, eine Hand unten am Fuß, die andere an der Gurgel. Sie muss selber lachen: „Ich weiß, das sieht ziemlich brutal aus, aber so kann man sie einfach am sichersten tragen.“
Wenige Minuten später also stehen mitten im großen Eckraum der Kunsthalle, der von den großformatigen Gemälden Helmut Pfeuffers, Jahrgang 1933, dominiert wird, zwei Zeugen einer ganz anderen Zeit. Amerika war gerade entdeckt worden, und Luther hatte seine Thesen noch nicht veröffentlicht. Und Julius Echter, dessen Tisch nun in Würzburg ist, sollte erst gut 40 Jahre später geboren werden.
Kunst geht fremd
Am 15. Juli starten vier Museen in Franken ein neues Projekt unter dem Titel „Kunst geht fremd“: das Mainfränkische Museum und der Kulturspeicher in Würzburg, die Kunsthalle Schweinfurt und das Kloster Wechterswinkel im Landkreis Rhön-Grabfeld. Bis Ende Oktober werden zwei Leuchterengel von Riemenschneider gegen einen Tisch von 1610 getauscht und Rhöner Holzfiguren gegen konkrete Kunst. Die Aktion will ein museales Netzwerk über Unterfranken spannen und einladen, die so verknüpften Häuser nacheinander zu besuchen. Aus dem Stadtgeschichtlichen Museum im Alten Gymnasium in Schweinfurt wird der so genannte „Echter-Tisch“ an das Mainfränkische Museum verliehen. Er wird in der Stadtgeschichtlichen Abteilung im Fürstenbau gezeigt und kehrt so für ein paar Wochen in die Räume zurück, für die ihn Fürstbischof Julius Echter ursprünglich hatte anfertigen lassen. Im Gegenzug sind die Leuchterengel in die Kunsthalle gewandert, wo sie in einer eigens für die Aktion entworfenen Koje stehen. Alle Termine: www.kunst-geht-fremd.de