
Der milde Winter von 2008 auf 2009 war eine Katastrophe für Michael Ress. Der Schlittenbauer aus Schwebheim empfahl den beiden Söhnen schon frustriert, „doch nicht Schlitten zu bauen“ und das Familienunternehmen Ress Kutschen weiterzuführen, das es seit 1696 gibt. Ress war gezwungen, Mitarbeiter zu entlassen, die 20 Jahre lang an seiner Seite gearbeitet hatten. In den Medien wurden schneereiche Winter totgesagt – der Klimawandel lasse so etwas nicht mehr zu.
Doch es kommt ganz anders: In den beiden darauf folgenden Wintern kann sich Ress vor Aufträgen nicht mehr retten. Der frühe Wintereinbruch und die gewaltigen Schneemassen steigern die Nachfrage nach Holzschlitten unwahrscheinlich. Verkaufte Ress im Krisenwinter vor zwei Jahren keine 4000, waren es 2010 fast 50 000 Schlitten.
„Wir haben alle Kapazitäten ausgeweitet“, sagt er. 20 Aushilfen und einige Leiharbeiter gehen den sechs verbliebenen Festangestellten zur Hand. Einige der Aushilfen sind ehemalige Mitarbeiter, die freie Stunden bei ihrem alten Meister verbringen.
Pro Tag schafft das Familienunternehmen 200 Schlitten. „Mehr kommt einfach nicht bei“, sagt Wagnermeister Michael Ress. Das Problem beginnt bei den Zulieferern: „Die Trockenkammern der Sägewerke sitzen voll“, weiß Ress. Dennoch weicht er nicht auf fremde Hölzer aus – seine Schlitten werden ausschließlich aus regionalen Buchen gefertigt. Das Sortiment hat Ress für den Moment auf sieben Modelle eingegrenzt – sonst würde die Produktion zu sehr blockiert, sagt der Schlittenbauer. „Jetzt kommt es auf die Stückzahl an.“
Die meisten seiner Kunden sind Großabnehmer. Stammkunden wissen Bescheid und bestellen schon im Frühjahr. Jetzt in der Endphase versuchen einige, Deals mit Ress abzuschließen: „Wenn wir unsere restlichen 500 Schlitten schnell bekommen, bestellen wir schon jetzt 2000 für den kommenden Winter“, so geht das oft, sagt Ress.
Ans Telefon geht er nur noch gelegentlich. „Es gilt sowie so nur noch abzusagen.“ Das könne der Anrufbeantworter genauso gut. Obwohl auf der Homepage von Ress Kutschen klar und deutlich steht: „Wir sind ausverkauft!! ... es sind wirklich keine Schlitten mehr da!“, kann es vorkommen, dass während der Mittagspause 186 Anrufe eingehen.
Michael Ress, Schlittenbauer aus Schwebheim
Dazu kommen aufgeregte Verwandte, die Michael Ress daran erinnern wollen, dass er wieder im Radio oder Fernsehen ist. Zeit, den eigenen Auftritt zu verfolgen, hat er aber nicht.
Ress wirkt zufrieden, aber auch ziemlich ausgelaugt. „Das schlaucht gewaltig“, sagt der 56-Jährige. Fünf Kilo hat er seit November verloren. Aber das Ende ist absehbar: „Ich mach' noch bis 26. Februar, dann ist Betriebsausflug, und am 3. März sitz ich im Flieger“, sagt er und atmet durch.
„Durchhalten“ ist immer seine Parole gewesen – jetzt zahlt es sich aus. Die Konkurrenz in Deutschland ist gering. Ein paar kleine Schlittenbauer gebe es noch, sagt Ress, die anderen seien in den vergangenen Jahren pleite gegangen.
Billigproduktionsländer im Osten hätten den Nachfrageboom zwar entdeckt, seien auf Grund der langen Lieferwege aber nicht in der Lage, schnell genug zu reagieren. Und Plastikschlitten könnten mit der robusten Holzversion einfach nicht mithalten.
Bei so viel Nachfrage und so wenig Konkurrenz, könnte man meinen, denkt ein Produzent sofort an Ausweitung und Investition. „Das ist schon geplant“, sagt Ress vorsichtig, „aber Stück für Stück.“
Trotz des derzeitigen Erfolgs sieht er der Zukunft skeptisch entgegen. „Das Risiko ist immer: Wie wird der nächste Winter?“ Die möglichen Auswirkungen der Klimaveränderungen scheinen Eindruck auf den Schlittenbauer gemacht zu haben. „Wenn's nicht schneit, ist jeder Schlitten zu viel“, sagt er.
Normalerweise fertigt das Traditionsunternehmen auch Kutschen. Von denen will Geschäftsführer Ress im Moment aber nichts wissen. Eine Riesenkutsche aus Köln steht in der Lagerhalle – die bekommt rechtzeitig zu Karneval neue Räder und Federn. Produziert wird diesen Winter aber nichts – außer Schlitten.
Schlittenbauer in der achten Generation
Michael Ress, geboren am 13. August 1954, hat den Beruf des Wagnermeisters gelernt, um das Familienunternehmen Ress Kutschen weiter zu führen.
Begonnen hatten seine Vorfahren im Jahr 1696 mit dem Bau von Kutschen und Pferdewagen in Kolitzheim. Holz-Rodelschlitten, die heute das Hauptprodukt des Unternehmens sind, kamen erst im späten 19. Jahrhundert hinzu. Nachdem ein Brand die Produktionsstätte 1974 zerstört hatte, verlegte die Familie ihren Firmenstandort nach Schwebheim. Michael Ress' Söhne Matthias (30) und Johannes (22) stehen bereits in den Startlöchern: Matthias ist als Grafik- und Mediendesigner selbstständig, kümmert sich aber um Onlinegeschäft des Unternehmens. Johannes dagegen hat Sattler gelernt und betätigt sich handwerklich. Wenn jetzt noch der Winter mitmacht, steht der neunten Ress Kutschen-Generation nichts im Weg.