Die Kehrtwendung, die Benzion Kellermann vom zuhause in Gerolzhofen vom Vater gelehrten und vorgelebten streng orthodoxen hin zum liberalen Judentum vollzog, ist bemerkenswert. Noch mehr seine Karriere als jüdischer Reformer, die mit seinem frühen Tod 1923 in Berlin endet.
In der heutigen Zeit war der einst bekannte Religionsphilosoph und Rabbiner weitgehend in Vergessenheit geraten. Mit dem Buch „Benzion Kellermann – Prophetisches Judentum und Vernunftreligion“ gibt ihm Torsten Lattki den Platz in der Philosophie- und deutsch-jüdischen Geschichte zurück, der ihm als wichtige Persönlichkeit des liberalen Judentums im deutschen Kaiserreich und den Anfängen der Weimarer Republik zukam und zukommt.
Torsten Lattki ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Jüdischen Kulturmuseum Augsburg-Schwaben. Bei der 2016 veröffentlichten 460 Seiten starken Biografie über das Leben und Wirken Kellermanns handelt es sich um seine Doktorarbeit an der Uni Erfurt.
Recherchen in Gerolzhofen
Die Recherchen hatten den Autor im August 2011 auch nach Gerolzhofen an den Geburtsort Kellermanns geführt. Hier stand ihm vor allem Evamaria Bräuer mit ihrem reichen Wissen über das Judentum im Allgemeinen und über die jüdische Gemeinde in Gerolzhofen im Besonderen zur Seite. Sie öffnete ihm auch die Türen in das Archiv der Stadt und das des „Steigerwald-Boten“.
Torsten Lattki ist immer noch voll des Lobes über die gewährte Unterstützung durch Evamaria Bräuer, Stadtarchivar Matthias Endriß und Uwe Teutsch, ehemals Verleger der Gerolzhöfer Heimatzeitung. Er betont: „Die Nachforschungen in Gerolzhofen waren wirklich ungemein hilfreich.“
Benzion Kellermann wird am 11. Dezember 1869 in Gerolzhofen als Sohn von Joseph Löb und Ella Kellermann in der Schuhgasse 276, dem heutigen Anwesen Schuhstraße 20, geboren. Sein Vater bekleidete hier im Heimatort seiner späteren Frau, einer geborenen Schüler, als Nachfolger seines Schwiegervaters in spe seit Januar 1866 das Amt des Religionslehrers, Vorsängers und Begräbnisaufsehers der 50 Mitglieder zählenden jüdischen Gemeinde.
Das erste Kind des jungen Ehepaares, Töchterchen Maria Anna, verstirbt nur knapp einen Monat nach ihrer Geburt im November 1866 und auch das zweite Kind, der im Mai 1868 geborene Sohn Michael, stirbt noch im Jahr seiner Geburt.
Am Morgen des 11. Dezember 1869 kommt das dritte Kind in der Schuhgasse auf die Welt. Es ist wieder ein Junge. Die Eltern geben ihm den hebräischen Namen Benzion, zu Deutsch: Sohn Zions. Angeblich um zu verhindern, dass auch dieses Kind früh stirbt. Benzion wird von allen aber nur Ben gerufen.
Drei Monate nach der Einweihung der neuen, um die Ecke in der Steingrabenstraße stehenden Gerolzhöfer Synagoge am 8. August 1873 stirbt die Mutter an Typhus. Ben ist noch keine vier Jahre alt. Bereits ein Jahr später heiratet der Vater Ellas Schwester Blümchen. Mit seiner zweiten Frau hat Joseph Kellermann ebenfalls fünf Kinder.
Von 1875 bis 1883 besucht Ben Kellermann gemeinsam mit den christlich getauften Kindern die Volksschule in Gerolzhofen. Dazu kommen täglich drei bis vier Stunden jüdischer Religionsunterricht, die sein Vater den jüdischen Kindern in der Synagoge erteilt.
Noch 1883 beginnt Ben seine Ausbildung an der Israelitischen Präparandenschule für angehende jüdische Lehrer in Höchberg. Nur kurze Zeit später stirbt sein Vater in Gerolzhofen. Sein Grab befindet sich noch heute auf dem Israelitischen Friedhof in der Nähe von Henkelmannskeller und Gertraudiskapelle.
Der vierjährige Kurs in Höchberg ermöglicht dem Sohn 1887 die Einschreibung an der Israelitischen Lehrerbildungsanstalt in Würzburg. Der erfolgreiche Examensabschluss 1888 führt ihn als Volksschul- und Religionslehrer nach Marburg und kurz darauf als Wanderlehrer in Landgemeinden der Umgebung. Dadurch erwirbt er die finanziellen Mittel für sein parallel betriebenes Studium der Philosophie, Philologie und Theologie in Marburg.
Im Sommer 1893 verlässt er Marburg und zieht nach kurzem Zwischenaufenthalt in Berlin nach Frankfurt am Main, um dort drei Jahre lang als Privat- und Schullehrer zu arbeiten. In dieser Zeit kehrt er wiederholt nach Gerolzhofen zurück. In Gießen promoviert er schließlich in Philologie mit der Auslegung des Ersten Buchs Samuel. 1896 wird die Doktorarbeit publiziert.
Bis 1903 studiert der frischgebackene Doktor der Philologie in Berlin und besucht dort neben der Friedrich-Wilhelms Universität zunächst das orthodoxe Rabbiner-Seminar, dann die liberalere Hochschule für die Wissenschaft des Judentums.
Eine Anstellung als Rabbiner der jüdischen Gemeinde führt ihn zwischendurch 1900 und 1901 ins westpreußische Konitz. Dort kommt es zu schweren antisemitischen Ausschreitungen aufgrund eines angeblichen jüdischen Ritualmords.
Nach der Rückkehr in die Hauptstadt des deutschen Kaiserreichs schließt sich bis zu seinem Tod 1923 eine umfangreiche Lehr- und Vortragstätigkeit als Religionsphilosoph, Wissenschaftler, Lehrer und Rabbiner in Berlin an. Zwischenzeitlich hatte Kellermann 1909 Thekla Lehmann in Würzburg geheiratet. Zwei Söhne, Heinz Josef und Ernst Walter, vervollständigen das Familienglück.
Benzion Kellermanns Leben und sein Werk stehen stellvertretend für den Weg vieler Zeitgenossen vom orthodoxen zum liberalen Judentum. Seine Hauptwerke sind „Der wissenschaftliche Idealismus und die Religion“ (1908), „Der ethische Monotheismus der Propheten“ (1917), „Das Ideal im System der Kantischen Philosophie“ (1920) und „Die Ethik Spinozas“ (Berlin 1922).
Von entscheidender Bedeutung für seinen Lebensweg ist die Begegnung mit dem damals wichtigsten jüdischen Philosophen des Kaiserreichs, Hermann Cohen. Er war das Haupt der Marburger Schule des Neukantianismus als einflussreicher Strömung in der deutschen und europäischen Philosophie. Ausgehend von Cohen, Kant und dem Neukantianismus, fordert Kellermann die Herausbildung einer universalen Menschheitsreligion der Vernunft.
Das liberale Judentum sah er aus damaliger Sicht dabei als einzige aller vergangenen und existierenden Religionen an, die sich schrittweise diesem Ideal annähern würde.
„Einheitlich und ganz“
„Wie seine Philosophie, so war sein Leben: in sich gefügt und in sich geschlossen, einheitlich und ganz, mit dem Glauben an die Erkenntnis, mit der Gewissheit des Systems, mit der Zuversicht der Erfüllung, mit dem Glanze des Ideals. Persönlichkeit und Philosophie waren in ihm eins, und auch darum war er aufrecht, ein Mann mit dem Mute zu sich selbst, echt und ehrlich, lauter und klar.“ So beschrieb der jüdische Gelehrte Leo Baeck am 27. Juni 1923 auf dem jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee den fünf Tage zuvor verstorbenen und seit Jahren schwer herzkranken Kellermann.
Torsten Lattki: „Benzion Kellermann – Prophetisches Judentum und Vernunftreligion“. Das Buch ist als Band 24 in der Reihe „Jüdische Religion, Geschichte und Kultur“ im Göttinger Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erschienen. 460 Seiten. Preis: 100 Euro. ISBN: 978-3-525-57040-1.