Für viele der älteren Einwohner von Dingolshausen ist er noch immer der "Post-Edwin". Dabei hat Edwin Kraft seinen Job als Postbeamter längst an den Nagel gehängt – oder besser gesagt hängen müssen. Denn wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte er die Poststelle in der Hauptstraße 28 ruhig noch zwei Jahre länger geführt, und wäre erst mit 62 Jahren ganz regulär in Pension gegangen. Doch die Post machte ihre Filiale im Ort bereits Ende Mai 1998 dicht und schickte ihren Mitarbeiter Edwin Kraft mit 60 in den Vorruhestand.
Im Gespräch mit dem 83-Jährigen ist unschwer herauszuhören, dass ihm sein Beruf, in dem er es vom Angestellten bis in den mittleren Dienst, zum Postobersekretär gebracht hat, ans Herz gewachsen war. Das liegt sicherlich auch daran, dass die Post in Dingolshausen über sieben Jahrzehnte lang und über drei Generationen hinweg Sache seiner Familie war (siehe Infobox). Sein Großvater hatte die Post-Niederlassung in Dingolshausen im Jahr 1925 übernommen, sein Vater führte diese weiter und im Jahr 1970 stieg schließlich Edwin Kraft als dessen Nachfolger ein. Die Post war quasi ihr Familiengeschäft.
Vom Verputzer zum Post-Angestellten
"Ich wusste schon vorher, dass ich die Poststelle gerne von meinem Vater übernehmen möchte", erzählt Edwin Kraft. Er hatte zunächst Tüncher und Verputzer gelernt und in diesem Beruf gearbeitet. Als 32-Jähriger kam er dann zur Post, musste sich als Nachfolger für seinen Vater jedoch "ganz normal" bewerben – und wurde genommen. Was ihn dort erwartete, wusste er, hatte er doch bereits zuvor vertretungsweise die Postgeschäfte im Dorf übernommen, wenn sein Vater im Urlaub oder krank war.
Edwin Kraft hat als Postbeamter die Blütezeit der Bundespost hautnah miterlebt. Es waren Zeiten, in der die Post im Leben vieler Menschen eine deutlich wichtigere, ja existenziellere Rolle gespielt hat als heutzutage, in der es übers Internet elektronische Post gibt sowie Versand-Dienste für Brief- und Paketsendungen aller Art und Online-Banking. Briefe, mit denen dringend benötigtes Bargeld oder Schecks zugestellt werden, handgeschriebene Briefe von den Liebsten oder Sparbücher der Postbank spielen heute bei weitem nicht mehr die Rolle, die sie noch in der Zeit hatten, als Edwin Kraft bei der Post anfing.
Kaum jemand hatte ein Telefon zuhause
Er erinnert sich auch noch an die Zeiten, als es nur eine Handvoll Telefonapparate im Ort gab. Als er noch ein Bub war, war es nicht selten er, der zu irgendwelchen Menschen im Ort eilen musste, wenn für diese an der Poststelle ein Telefonat aufgelaufen war. Dann kamen die Dorfbewohner zur Post, und von dort aus wurde der Rückruf vermittelt. So lief das bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein. Und selbst dann, als immer mehr Haushalte sich ein Telefon leisten konnten, war der Fernsprecher in der Post noch häufig für Ferngespräche im Einsatz, berichtet Edwin Kraft, oder für Notrufe, wenn etwa mitten in der Nacht ein Arzt gerufen wurde. Ein Uhrzähler half mit, die am Post-Telefon vertelefonierten Einheiten abzurechnen, die man am Ende zu bezahlen hatte. Stundenlanges Telefonieren per Flatrate war damals nicht vorstellbar.
Als Postler verrichtete Edwin Kraft nicht nur den Dienst am Schalter. Er stellte auch Briefe zu, in Dingolshausen und zuletzt zusätzlich in Bischwind. Die Kollegin, die ihm dabei half, war Maria Günther – seine Schwester. Auch seine Ehefrau Maria Kraft war in den "Familienbetrieb" involviert: Sie übernahm die Urlaubsvertretung.
Brief mit kryptischer Anschrift
Die Briefe wurden – wie heute noch üblich – einmal täglich in den beiden Ortschaften verteilt. Was heute unmöglich erscheint: Ab und zu, erinnert sich der 83-Jährige, sind Menschen, die besonders dringend auf einen Brief gewartet haben, zu ihm nach Hause gekommen und haben sich dort die heiß ersehnten Umschläge aus den Stapeln der zum Verteilen vorsortierten Briefe geben lassen. Edwin Kraft hat Postgeschäfte auch immer wieder in seiner Freizeit verrichtet oder einen Kunden abends besucht. Er war im Ort nicht nur bekannt – er kannte sich auch selbst bestens aus. So brachte er eines Tages einen Brief zum richtigen Empfänger, der als Anschrift nur die vage Angabe enthielt: "zweite Straße rechts, drittes Haus links".
Im Februar 1981 feierte die Post noch die Eröffnung der modernisierten Poststelle bei Familie; diese hatte nun auch einen Schalter-Tresen mit schusssicherem Glas. Familie Kraft, so lobte der zur Feier angereiste Postoberrat Karl-Heinrich Saul als Vorsteher des Bereichspostamts Schweinfurt, habe die Geschäfte der Post vor Ort "in festen und sicheren Händen". Er hatte auch Zahlen mitgebracht, mit denen er die ihm zufolge "recht gut" gehenden Post-Geschäfte in Dingolshausen belegte: So würden in der dortigen Poststelle jährlich rund 500 Einschreiben, 1000 Pakete und Päckchen und 200 Wertsendungen eingeliefert. Ein- und Auszahlungen im Postgirodienst verzeichnete man rund 5000 pro Jahr sowie 700 Einlagen und Rückzahlungen im Sparkassendienst. Jährlich 1500 Orts- und Ferngespräche würden über das Telefon der Filiale geführt und dort für 30 000 D-Mark Postwertzeichen verkauft. Und im Ort würden pro Jahr 180 000 Briefe und fast 10 000 Pakete und Päckchen zugestellt.
Kein Versprechen von langer Dauer
Während der Feier verkündete der Postoberrat noch, dass die Poststelle "ihren festen Platz in Dingolshausen hat und haben wird". Keine 20 Jahre später galt dieses Wort nichts mehr, die Kundenfrequenz war zum Ende hin einfach zu gering, meint Edwin Kraft und bedauert rückblickend zugleich, dass es selbst in der Nachbarstadt Gerolzhofen nach dem Umzug der Postfiliale nun keine Postbank mehr gibt.
Dass die einstige Poststelle in der Hauptstraße 28 in Dingolshausen im Bewusstsein der Dorfbewohner noch ihren Platz hat, zeigen nicht nur Edwins Kraft Spitzname "Post-Edwin" und das Erinnerungsschild vorm Haus, das die Geschichte der einstigen Poststelle umreißt. Maria Kraft erzählt, dass nicht nur ihre Kinder und Enkel immer wieder zu ihr kommen mit der Frage "Hast du grad mal eine Briefmarke für mich?" – welche die 82-Jährige tatsächlich, wie früher, immer zur Hand hat. Das wissen auch andere Dorfbewohner zu schätzen.