Nein, ein Streitgespräch war es nicht, zu dem sich der ehemalige Verfassungsrichter Udo di Fabio (62) und der bayerische Justizminister Winfried Bausback (52) im Theater der Stadt Schweinfurt trafen. Dafür waren sich die beiden Jura-Professoren zu einig, als sie auf Einladung von Flessabank-Gesellschafter Mathias Ritzmann über das „kulturelle Fundament von Wirtschaft und Demokratie“ diskutierten. „Zwiegespräch“ war die richtige Bezeichnung für eine Veranstaltung, die abseits des politischen Alltagsgeschäfts für Nachdenklichkeit bei den Besuchern sorgte.
Di Fabio, der von 1999 bis 2011 Richter am höchsten deutschen Gericht in Karlsruhe war und heute als Professor für öffentliches Recht an der Universität Bonn lehrt, sorgte zuletzt mit seinem Gutachten zur Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel für Schlagzeilen. In dem Gutachten, das er im Auftrag der bayerischen Staatsregierung erstellt hatte, gelangt er zu der Auffassung, dass die Öffnung der Grenzen im Herbst 2015 verfassungsrechtlich nicht gedeckt war.
Andere Juristen widersprachen dieser Auffassung. Gleichwohl warf CSU-Chef Horst Seehofer der Kanzlerin seinerzeit eine „Herrschaft des Unrechts“ vor, zu einer Verfassungsklage kam es aber nicht.
„Alles soll möglichst bleiben wie es ist“
Hier die Flüchtlingskrise, dort die Finanzkrise: Die Erfahrung, dem (Rechts-)Staat entgleite die Kontrolle, sei ein Hauptgrund für den Vertrauensverlust, den Demokratie derzeit erfährt, für die Spaltung, die Bausback und di Fabio unisono ausmachen. In Zeiten von Globalisierung, Digitalisierung, der Flüchtlingsbewegungen, des Wirkens autokratischer Regime und der Bedrohung durch den politischen Islam hätten viele Menschen bis in die Mittelschicht hinein Verlust- und Zukunftsängste. Da wachse ein Bedürfnis nach kultureller Identität, so CSU-Politiker Bausback. „Alles soll möglichst bleiben, wie es ist.“ Richtschnur dafür böten die Werte der christlich-abendländischen Zivilisation. Bereits in den Zehn Geboten sei Vieles erwähnt, das es auch heute zu beachten gelte.
Was ist moralisch richtig oder falsch? Die Menschen hätten ein gutes Gefühl dafür, glaubt di Fabio. Er sprach von der „Alltagsvernunft“, die viele leite. Dazu gehörten vermeintliche „Sekundärtugenden“ wie Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Höflichkeit und Ordnungsliebe“. Dass es nicht gut gehen könne, wenn die Schuldenquote von Staaten wie Italien 130 Prozent des Bruttoinlandsprodukt betrage oder wenn Banken virtuelle Produkte ohne realen Gegenwert vertreiben, spürten die Leute. Neoliberalismus und Internationalismus seien gescheitert. Unternehmen und vor allem die politischen Institutionen müssten sich wieder mehr an der „Alltagskultur“ orientieren, von der sie sich über die Jahre entfernt hätten.
Alltagskultur schafft Identität
Diese „Alltagskultur“ sei durchaus national geprägt – und schaffe so Identität. Di Fabio: „Es gibt eine spezifische Kultur der deutschen Demokratie.“ Geprägt sei diese nicht zuletzt durch historische Erfahrungen, inklusive des „moralischen Abgrunds“ während der NS-Zeit. Die Folge sei das „Leitbild des aktiven, mitdenkenden Bürgers“. Dazu gehöre es beispielsweise auch, andere, einem selbst widerstrebende Meinungen auszuhalten.
In diesem Zusammenhang bekannte der ehemalige Verfassungsrichter, er habe Schwierigkeiten mit dem Begriff „Haltung“. Da fürchte er eine „Formatierung der öffentlichen Meinung“. Vielen Menschen hierzulande gehe es ähnlich, sie fühlten sich nicht zuletzt auch durch einen Mainstream in den Medien gegängelt.
Bei der Euro-Rettung und bei der Flüchtlingspolitik hätten viele den Eindruck gehabt, alltägliche Fragen würden nicht gestellt, viele Probleme lieber gar nicht angesprochen. „Dabei hat sie sich ein jeder gestellt.“ Entsprechend fühlten sich viele Menschen allein gelassen.
„Dressierte Affen“ reichen nicht
Politiker seien aufgerufen, „Angebote zur Wiedergewinnung der Wirklichkeit“ zu machen, sagt di Fabio. Bausback wünscht sich von seinen Kollegen mehr Mut auch zum Aussprechen unbequemer Wahrheiten.
Bernd Weiß, der ehemalige bayerische Innenstaatssekretär und Buchautor („Placebo Politik“), warnte in der Diskussion davor, sich dabei zu sehr auf den „Volkswillen“ zu berufen. Um diesen zu „vollstrecken“, brauche es keine Politiker, da reichten „dressierte Affen“.
Eigenständiges Denken würden sich viele Kollegen aber abgewöhnen, weil es ihnen nicht opportun scheint, sich auf komplexe Sachverhalte einzulassen. Allein einige wenige „Megathemen“ fänden Eingang in die öffentliche Debatte, so Weiß. Zudem werde Mut gegenüber dem Mainstream oder das Aussprechen auch unangenehmer Wahrheiten in den Parteien in der Regel nicht honoriert, wenn es um Wiedernominierung für Posten geht.
Kritik, die die beiden Jura-Professoren als Appell an die Politik verstanden, solche Debatten zu führen und sich gegebenenfalls auch mal zu streiten. Raus aus den Echokammern zu gehen und auch kontroversen Positionen zuzuhören sei ein erster, wichtiger Schritt. Die Demokratie in Deutschland werde davon profitieren.