
Der Anblick macht sprachlos: Schublade für Schublade kommen filigran gestaltete Ostereier zum Vorschein. Eins schöner als das andere. Kunstvoll ausgefräst, bemalt, geritzt, graviert. Über 300 solcher zerbrechlichen Schönheiten hat Leopold Marschner aktuell in seinem Lager – vom stattlichen Schwanenei bis hin zu winzigen Exemplaren von Zebrafinken.

Seit fast 50 Jahren fertigt der pensionierte Maschinenbauingenieur aus Dittelbrunn im Landkreis Schweinfurt kunstvolle Ostereier. Anfänglich arbeitete er nur mit Farbe und Pinsel. Doch damit gab er sich nicht zufrieden. "Ich wollte meinen eigenen Stil." Deshalb begann er mit Feinmechaniker-Werkzeugen zu experimentieren und entwickelte eine außergewöhnliche Technik: Er ritzt die kunstvollen Muster nicht in die Schale wie bei den berühmten sorbischen Ostereiern. Er fräst sie aus. Bis zu 5000 Löcher bohrt Marschner in die Eierschale. Je nachdem, wie filigran das Muster ist.

Leopold Marschner öffnet die Tür zu seiner Werkstatt. Sie gleicht einer Zahnarztpraxis: Diamantschleifer und Mikromotoren in allen Größen und Formen liegen am Werktisch bereit. Es sind tatsächlich hochwertige Dentalwerkzeuge, die der 86-Jährige verwendet. Mit 30 000 Umdrehungen fräst sich so ein Industriediamant durch die Schale. Stück für Stück, von einem Pol zum anderen. Und innerhalb weniger Minuten zieht sich ein florales Muster diagonal über das Ei.
Je größer das Ei, desto härter die Schale
"Eierschalen sind härter als man glaubt", erklärt Marschner. Je größer das Ei, desto härter die Schale. Natürlich könne es auch passieren, dass es gerade bei der letzten Bohrung "knacks macht". Dann ist die Arbeit von vielen Stunden dahin. Den 86-Jährigen bringt das nicht aus der Ruhe: "Dann leg' ich das Ei weg und hol' mir ein Bier aus dem Kühlschrank."

Für Leopold Marschner ist das Arbeiten am Ei eine "wunderbare Erholung" vom Alltagsstress. Während seines Berufslebens als Mitglied der Geschäftsleitung beim schwedischen Kugellagerkonzern SKF in Schweinfurt entdeckte er das Hobby, "um Aggressionen abzubauen". Daraus hat sich eine Leidenschaft für das Kunsthandwerk entwickelt, die er im Lauf der Jahre mehr und mehr perfektionierte. In Fachkreisen blieb seine Kunst nicht unentdeckt. Schon Mitte der 1980er-Jahre erhielt der Dittelbrunner Einladungen zu internationalen Ostereier-Ausstellungen. In ganz Deutschland war er unterwegs, präsentierte seine Kunstwerke auf den großen Messen in Berlin, Hannover, Hamburg oder Dresden. Auch bei den berühmten Ostereiermärkten im Kloster Maulbronn und Eberbach gehörte er zur exklusiven Auswahl an Ausstellern.

Seit Corona liegt das Geschäft jedoch brach. Schon im vergangenen Jahr waren die großen Märkte abgesagt worden, auch heuer finden keine Ausstellungen statt. "Das fehlt mir schon", gesteht Leopold Marschner. Dabei geht's dem 86-Jährigen nicht ums Geschäft. Reich werden könne man sowieso nicht mit diesem aufwändigen Hobby, allenfalls Sammler oder Museen seien bereit, für solche Kunstobjekte etwas tiefer in die Tasche zu greifen. Vielmehr vermisst er den Kontakt zu anderen Ostereierkünstlern. Denn das Fachsimpeln ist für ihn das Wichstigste und Schönste auf solchen Ausstellungen.

Jedes Jahr macht Leopold Marschner etwas Neues. Heuer sind es perforierte Enteneier, zum Teil mit Flüssiggold veredelt. Alles frei hand ausgefräst. Ein echter Hingucker ist ein spiralenförmig ausgeschnittenes Gänseei, das dank ausgeklügelter Technik sogar einen Federmechanismus hat.
16 Arbeitsschritte sind für die Gestaltung eines Ostereis nötig
Das A und O ist eine ruhige Hand. Leopold Marschner hat sie auch mit 86 Jahren noch. Und die Geduld, um solche filigranen Kunstwerke zu fertigen. 16 Arbeitsschritte und rund 40 Stunden sind notwendig, bis aus einem handelsüblichen Ei ein kunstvolles Osterei entsteht. Zuerst einmal muss der Dotter ausgeblasen, das Ei innen gründlich gesäubert und dann ein bis zwei Monate zum Trocknen gelagert werden. Ostern beginnt für Marschner deshalb schon lange vor Weihnachten, um Dutzende Eier – vom Huhn über Ente, Pute und Gans bis hin zu Emu oder Nandu – für die eigentliche Arbeit vorzubereiten.

Im Lagerraum neben der Werkstatt stapeln sich die Kartons mit den ausgeblasenen Eiern. Die Hühnereier bekommt Marschner von einer Brüterei aus der Region. Es ist Ausschussware. Eier also, die erfolglos angebrütet wurden. Handelsübliche Eier könne man nicht verwenden, weil diese ja gestempelt sind. Die Puten-, Gänse- und Wachteleier holt sich Marschner von einem Geflügelzüchter auf dem Schweinfurter Bauernmarkt. Die ausgefallenen Exemplare – von Emu, Strauß oder Nandu – kauft der Dittelbrunner von Händlern auf den Ostereiermärkten. "Am teuersten ist das Schwanenei", sagt Marschner. 23 bis 25 Euro kostet ein ausgeblasenes Exemplar.
Apropos Ausblasen: Der 86-jährige Tüftler hat auch hier eine eigene Technik entwickelt. Aus den größeren Puteneiern bläst er den Dotter mit einer Fuß-Druckluftpumpe heraus. Die kleinen, zerbrechlicheren Eier saugt er mit einer Muttermilchpumpe aus.

Leopold Marschner arbeitet immer an mehreren Eiern gleichzeitig. Mit Zirkel und Bleistift teilt er ein Ei in Segmente ein, damit die umlaufenden Muster millimetergenau platziert werden können. Jede Bohrung muss mit der Feile nachbearbeitet werden. Bei einem Ei mit 5000 Löchern ist das eine Woche Arbeit. "Ich arbeite meist am Vormittag", erklärt der 86-Jährige. Der Konzentration wegen. "Nach dem Holzhacken geht so etwas nicht."
Leopold Marschner hat eine Vorliebe für Blau und Gold
Ist das Muster eingefräst und das Ei ganz geblieben, wird es noch einmal gesäubert. Dann geht's ans Dekorieren. Leopold Marschner zieht weiße Baumwollhandschuhe über, um keine Fingerspuren auf der Schale zu hinterlassen, während er die Schellacktusche aufträgt. Jede Bohrung wird mit einem kunstvollen Motiv farbig ummantelt. Der 86-Jährige hat eine Vorliebe für Blau und Gold, das er im letzten Arbeitsgang mit einer Stahlfeder um die Ränder aufbringt, was dem Ei eine orientalische Note gibt.

Die Muster denkt sich Leopold Marschner selbst aus. Anregungen holt er sich aus Teppichprospekten oder bei Damen-Oberbekleidung. "Da finden sich immer schöne Ornamente." Auch auf Friedhöfen hat er schon lohnende Motive entdeckt. Denn der 86-Jährige bemalt auch Eier mit christlichen Darstellungen. Für die berühmte Wieskirche im Allgäu zum Beispiel hat er den gegeißelten Heiland mit Schweißtuch und Marterwerkzeugen aufs Ei gebannt. Manchmal zieren auch Osterwünsche oder Sprüche die kunstvoll bearbeiteten Eier. Auf einem vier Zentimeter großen Fasanenei hat Leopold Marschner in feiner geschwungener Schrift das komplette "Vater unser" untergebracht. Einfach ist es nicht, auf der gewölbten Eierschale zu schreiben oder zu malen, "aber es macht großen Spaß".

Auch bunte Ostereier hat der Künstler im Programm. Sie werden mit Textilfarbe rot, blau oder grün eingefärbt und dann mit ausgefallenen Motiven verziert, indem die Farbe Strich für Strich wieder weggekratzt wird, so dass die weiße Schale zum Vorschein kommt. Eine goldene Umrandung setzt eine besondere Note.

Der 86-Jährige führt auch Auftragsarbeiten aus. Für Museen zum Beispiel oder für Sammler, die sich ein besonderes Motiv wünschen. Er beobachte aber ein schwindendes Interesse an der Ostereierkunst, sagt Marschner. Der Organisationsaufwand für die Messen werde immer größer, die Zahl der Liebhaber solcher Handwerkskunst immer kleiner. Viele Veranstalter hätten deshalb aufgehört.
Leopold Marschner indes denkt nicht ans Aufhören. Immerhin warten in seiner Werkstatt noch viele unbearbeitete Eier darauf, ein kunstvolles Osterei zu werden. Und außerdem hat der 86-Jährige noch ein Ziel: Er will "noch besser und noch perfekter" werden.