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WERNECK
Öffentlicher Suizid: journalistischer Spagat
Manfred Schweidler
 |  aktualisiert: 07.01.2016 15:19 Uhr

Vor vielen Augenzeugen hat sich am Dienstagnachmittag in Werneck (Lkr. Schweinfurt) ein Mann das Leben genommen. Die Polizei und der Klinikbetreiber hielten sich mit Erklärungen zurück und sagten auf Anfrage: Beim Spaziergang mit einem Verwandten im Park eines nahegelegenen Krankenhauses (in dem er amtlich untergebracht war) sei der Mann plötzlich losgestürmt.

Mehrere Zeugen sahen, wie er sich vor ein fahrendes Auto warf. Mit einer Vollbremsung konnte die Fahrerin den Aufprall vermeiden. Der 37-Jährige rappelte sich hoch, rannte in einen Einkaufsmarkt, nahm ein Messer und tötete sich.

Warum die Redaktion darüber zurückhaltend berichtet

Der Fall erregt Aufsehen, betrifft unmittelbar Beteiligte von der Autofahrerin bis zu den Ersthelfern im Supermarkt und interessiert noch mehr Menschen, die den anschließenden Polizeieinsatz bemerkten. Dennoch hat sich diese Redaktion aus guten Gründen entschieden, dem Suizid nur wenige Zeilen zu widmen, obwohl ihr mehr Fakten über den Fall bekannt sind.

Denn die Berichterstattung darüber erfordert von Journalisten einen Spagat: Normalerweise sollen sie anschaulich schildern, Details liefern. Bei Suiziden raten Experten wie der Medienpsychologe Benedikt Till jedoch genau das Gegenteil. Zu Recht. Auch diese Redaktion folgt in ihren ethischen Leitlinien den Empfehlungen des Deutschen Presserates. Der rät sinngemäß, weitgehend auf die Berichterstattung zu verzichten, es sei denn, der Suizid geschieht vor größerer Öffentlichkeit und bedarf deshalb der Erklärung – oder es handelt sich um eine Person von besonderem öffentlichem Interesse.
 

Suizidforscher warnt

Ein wortgewaltiger Vorkämpfer der Regelung ist der Suizidforscher Professor Armin Schmidtke. Er warnt immer wieder: Personen die selbst schon mit diesem Gedanken spielen, „sind – wenn sie in den Medien Einzelheiten erfahren – dafür anfällig, diese in ihrem eigenen Umfeld zu wiederholen.“ Schmidtke war ab 1986 Leitender Psychologe an der Würzburger Uniklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Seit 2002 ist er verantwortlich für das Nationale Suizidpräventionsprogramm für Deutschland. Immer wieder versucht er, Redaktionen für diesen Effekt zu sensibilisieren.

Suizid ist ein großes Problem in Deutschland. Etwa alle 53 Minuten nimmt sich hier ein Mensch das Leben, 10.000 pro Jahr. Das sind mehr als durch Verkehrsunfälle, Mord und Totschlag, illegale Drogen und Aids zusammen – aber über die wenigsten liest oder hört man in den Medien.

Dass spektakulär bekannt werdende Suizide Nachahmer finden, heißt aus gutem Grund der „Werther-Effekt“: Nachdem Goethes Buch „Die Leiden des jungen Werthers“ 1774 erschienen war, brachten sich eine Reihe junger Männer – wie die Titelfigur – um. Der Autor geriet zeitlebens in Rechtfertigungszwang. Der Werther-Effekt ist seit 1974 gut dokumentiert. Damals stieg in New York die Zahl der Suizide immer dann erkennbar an, nachdem die „New York Times“ über einen solchen Fall berichtet hatte – und zwar um so stärker, je spektakulärer die Berichterstattung war.
 

Nachahmungstaten

Anfang der 80er zeigte das ZDF die (fiktive) Serie „Tod eines Schülers“. Darin nahm sich ein Jugendlicher das Leben. Hinterher nahm die Zahl ähnlicher Suizide bei jungen Männern um 175 Prozent zu. Selbst bei der Wiederholung der Serie eineinhalb Jahre später stellten Wissenschaftler noch einen erheblichen Nachahmungseffekt fest.

Auch nach dem Suizid von Fußballer Robert Enke, über den deutsche Medien detailliert berichtet hatten, stieg die Zahl ähnlicher Suizide deutlich an – in den ersten zwei Wochen um 138 Prozent. Die Forscher beobachteten auch längerfristige Folgen: Im Vergleich zu den zwei Jahren vor Enkes Tod stieg die Zahl ähnlicher Selbsttötungen in den zwei Jahren danach um 19 Prozent.

Auf die Sprache kommt es auch an

Für den Fall, dass ein Medium sich zur Veröffentlichung entschließt, raten Fachleute wie Medienpsychologe Till: Die Sprache des Berichts sollte möglichst sachlich und unspektakulär sein. Wenn überhaupt berichtet wird, dann kurz und nicht auf der Titelseite. Es sollten keine Bilder des Orts gezeigt werden, wo sich der Betroffene getötet hat und auch nicht beschrieben werden, wie derjenige gestorben ist. Till empfiehlt auch, Name, Foto, Lebensumstände und Abschiedsbriefe nicht zu veröffentlichen. „Die Person darf nicht heroisiert und die Tat nicht romantisiert werden.“ Das geschieht leicht, wenn man Formulierungen im Sinne von „Er wählte einen besonderen Tod“ oder „Sie ist nun ewig vereint mit . . .“ wählt. Überdies sollten die Angehörigen in der Schockphase nicht interviewt werden.

 
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