„Wo bin ich?“ - Das ist die Frage, die sich die jungen Zuschauer in der Meininger Premierenvorstellung einer Inszenierung des Jungen Theaters Eisenach häufiger gestellt haben werden. Und zwar noch vor den Fragen, die Juli Zeh in ihrem 2004 erschienenen Roman „Spieltrieb“ stellt, „Wer bin ich?“, „Was bin ich?“, „Wer sind wir?“, „Wer bist du?“, zum Beispiel.
Zweidreiviertel Stunden Spiel (inklusive Pause) mutet Regisseur Sebastian Stolz den Zuschauern mit Bernhard Studlars Theaterfassung von Zehs 565-Seiten-Roman zu. Offenkundig hat das Inszenierungsteam – „Junges Ensemble“, vornehmlich Schulklassen bei der Premiere – ein junges Publikum im Blick und will es zu einer Wertediskussion über gängige Moral, Unmoral und Nihilismus provozieren. Schließlich spielt der Roman in den Räumen eines Bonner Privatgymnasiums (funktionales, abstraktes Bühnenbild von Helke Hasse), das auch „jenen verlorenen Geschöpfen, die sich hartnäckig gegen eine Teilnahme an der Kaffeefahrt namens 'glückliche Kindheit' zur Wehr setzen, eine letzte Chance auf Hochschulreife“ gewährt (das ist ein Satz aus dem Buch, der, trotz ungewohnter Metapher, für junge Leute noch relativ problemlos nachvollziehbar ist, wenn sie ihn hören).
In Zehs Roman wimmelt es von blitzgescheiten, kunstvollen aber auch künstlich mit Bedeutung aufgeblasenen Sätzen und Metaphern. Das ist beim Lesen nicht unbedingt ein schwerwiegendes Problem. Schließlich kann man die Sätze immer und immer wieder studieren. Wer sie allerdings in einer Theaterfassung seinen Figuren in den Mund legt, schafft zum einen keine lebendigen Charaktere, sondern schlimmstenfalls lebendige Litfaßsäulen.
Und zum anderen dröhnt er das Publikum mit bedeutsamen Gedanken zu. Selbst die Tatsache, dass der Intelligenzquotient der Hauptpersonen Ada (14) und Alev (19) – mit enormer Energie gespielt von Irina Ries und Alexander Beisel – in ungeahnten Höhen schwebt, heißt nicht, dass man ihnen am laufenden Band kunstvoll gedrechselte, weise Sätze in den Mund legen sollte. Wenn Worte als endloser Fluss von sarkastisch gefärbten Bildern und Erkenntnissen aus den Mündern strömen, dann schalten viele Zuhörer allein aus Gründen des Selbstschutzes auf Durchzug. Und orientieren sich, wenn überhaupt, nur noch an lebensnahen Äußerungen und an Action. Erfreulicherweise gibt es einige wirklich pfiffige Monologe und Dialoge und exakt choreografierte Auftritte, vor allem aber enorm provokante Sexszenen, die, um das Ganze nicht peinlich wirken zu lassen, ironisch gebrochen werden. Alev will Ada zeigen, was übrig bleibt, wenn man ein gültiges moralisches Wertesystem außer Kraft setzt: gnadenlose Ausübung von Macht und ein mörderischer Spieltrieb.
Ada verführt ihren Sportlehrer (Gregor Nöllen). Die jungen Leute erpressen den Mann mit Videoaufnahmen der Sexszenen. Am Ende steht Ada vor einem fiktiven Richter, erklärt ihr Verhalten, referiert über Normalität, Moral, Scheinheiligkeit und Anarchie in der bürgerlichen Gesellschaft und positioniert sich als Visionärin: „Wir sind vorausgeeilt.“
Die Frage liegt nahe, ob es den Machern tatsächlich vorrangig um Aha-Erlebnisse beim jugendlichen Publikum geht oder um eine demütig werktreue Wiedergabe des Juli-Zeh-Textes. Auch das Programmheft richtet sich keineswegs am erwartbaren Verständnishorizont Jugendlicher aus, sondern schwurbelt auf hohem intellektuellen Niveau über den Köpfen der Zuschauer. Fast könnte man glauben, die Theaterleute hielten die Schüler allesamt für praktizierende Nihilisten mit einem Durchschnitts-IQ von 150 plus.
Die Schauspieler (neben den Genannten noch Clarissa Ross, Jannike Schubert und Hans Meyfarth) kriegen die Geschichte dort bewundernswert in den Griff, wo sie alltäglich reden, denken und handeln dürfen. In dem Moment, in dem sie zu Trägern philosophischer Botschaften werden, muss ihre Glaubwürdigkeit in der Darstellung junger Außenseiter versagen. Trotz Einsatz von Videoprojektionen und Actionattraktionen ist diese Interpretation des Romans zu lang, zu ermüdend, zu kopflastig. Gut, dass es im Haus noch Juli Zehs „Der Kaktus“ gibt.
Nächste Vorstellungen: 23. April, 18 Uhr, 24. April, 11 Uhr. Kartentelefon: (0 36 93) 45 12 22 oder 45 11 37. www.das-meininger-theater.de