Rita Prigmore dürfte eigentlich gar nicht auf der Welt sein. Zumindest, wenn es nach dem Willen der Nazis gegangen wäre. Denn die wollten ihre Mutter zur Sterilisation zwingen. Die Alternative wäre das Konzentrationslager gewesen. Sinti, Rita Prigmore ist eine Sinteza, und Roma sollten keinen Nachwuchs und damit keine Zukunft haben im so genannten Tausendjährigen Reich, das nur zwölf Jahre Bestand hatte.
Die 75-jährige Zigeunerin war am Mittwoch an die Ludwig-Derleth-Realschule gekommen, um vor den drei achten Klassen von ihrem erschütternden Schicksal zu berichten. Als gemeinsame Veranstalter traten die Schule, das Kulturforum und die Volkshochschule auf. Evamaria Bräuer und Georgine Bachmann hatten die Veranstaltung organisiert.
Zurück zu Rita Prigmores Geschichte: Ihre Mutter war bereits schwanger, als sie sterilisiert werden sollte. Nun wollten die Nazis den Schwangerschaftsabbruch. In der Klinik wurde aber festgestellt, dass die Frau mit Zwillingen schwanger war.
Das änderte alles. Rita Prigmores Mutter erhielt die Genehmigung, die Kinder zur Welt zu bringen. Das taten die Nazis aber nicht aus einem letzten Rest von Menschlichkeit heraus, sondern aus einem extrem infamen Motiv. Zwillinge waren nämlich gut zu gebrauchen für medizinische Experimente, die im Dritten Reich an Zynismus kaum zu überbieten waren.
Die werdende Mutter wurde in den kommenden Monaten mehrmals von Dr. Werner Heyde untersucht. Er war damals Direktor der Universitäts-Nervenklinik in Würzburg und verantwortlich für die Planung und Durchführung der sogenannten Aktion T4, dem von Hitler befohlenen Mord an rund 100 000 behinderten und psychisch kranken Menschen.
Heyde war gut bekannt mit Josef Mengele, dem skrupellosen Zwillingsforscher und späteren Lagerarzt des Zigeuner-Familienlagers in Auschwitz.
Heyde nahm auch auch an Rita und ihrer Zwillingsschwester Rolanda medizinische Experimente vor. Mit katastrophalen Folgen: Bei dem Versuch, die Augenfarbe der Kinder von braun in blau zu verändern, erlitten sie schwere Verletzungen. Dabei wurde den Kindern blaue Tinte in die Augen gespritzt. Rolanda starb wenige Wochen nach der Geburt. Rita überlebte, hat aber bis heute unter den Folgen zu leiden: ständige Kopfschmerzen, Ohnmachtsanfälle, Schwindelattacken und Konzentrationsstörungen begleiten sie ihr Leben lang.
500 000 Sinti und Roma wurden im Dritten Reich umgebracht. Aber auch nachdem das Regime 1945 besiegt war, bestand kaum Interesse am Schicksal dieser Gruppen. Die Vorurteile gegen Zigeuner blieben. Um sich Entschädigungen einzusparen hieß es nun, Sinti und Roma seien im Dritten Reich nicht aus rassistischen Gründen verfolgt worden, sondern weil sie kriminell und asozial gewesen seien.
Rita Prigmore beklagte, die Verbrechen an Sinti und Roma seien nicht aufgearbeitet worden. Ein Hauptbeteiligter wie Christian Blüm, der Leiter des Zigeunerreferats im nationalsozialistischen Würzburg, habe später bei der Polizei Karriere gemacht.
Dennoch habe es keinen Sinn, verbittert zu sein, sagte Prigmore. „Ich sehe es als meine Aufgabe dazu beizutragen, dass sich das nicht wiederholt“, sagte sie den Schülern, die dafür ganz wichtige Adressaten für sie sind. Und: „Das einzige, was hilft, ist Verzeihung. Nur so gibt es eine Zukunft, die nicht von Hass vergiftet ist.“ Das bedeute aber nicht, dass man die entsetzlichen Ereignisse im nationalsozialistischen Deutschland vergessen sollte, sagte Prigmore an die Adresse derer, die meinen, es sollte endlich Ruhe einkehren in die Diskussion um die Nazi-Verbrechen.
Mit dem Blick auf das Heute äußerte die Zigeunerin Angst und Wut, dass bereits wieder Rechtsextreme in den Parlamenten sitzen. „Jedes Vorurteil kann wieder in eine Katastrophe wie Auschwitz führen“, sagte die gläubige Christin Rita Prigmore am Ende.
„Was halten Sie von Stolpersteinen?“, lautete die erste der gut überlegten Schülerfragen. Prigmote: „Nichts, sie zeigen wieder, was wir wert sind. Die Leute treten darauf herum.“ Den Tod ihrer Schwester habe sie im Grund nur durch ihren Glauben verarbeiten können, erklärte Prigmore zu einer weiteren Frage.
Dann schilderte sie auch, in welchem entsetzlichen inneren Konflikt die Nazis ihre Mutter getrieben hatten. Um die Zwillinge gebären zu können, musste sie unterschreiben, dass sie die Kinder für die Zwillingsforschung freigeben würde. Als dann eines der Kinder starb, musste sie sich vorwerfen, dafür die Unterschrift geleistet zu haben.
Ob der Arzt Dr. Heyde bestraft wurde, wollte ein anderer Schüler wissen. Zunächst nicht, er praktizierte unter den Namen Fritz Sawade weiter, sollte dann aber 1964 in den Auschwitz-Prozessen zur Rechenschaft gezogen werden. Wenige Tage vor Prozessbeginn nahm er sich in seiner Gefängniszelle das Leben.
Hatte Rita Prigmore auch nach dem Krieg noch Angst, wenn sie auf die Straße ging oder Angst vor deutschen Autoritäten? Ja, sagt sie. Deswegen war sie auch nur dreieinhalb Jahre in der Schule. Lange Zeit lebte sie dann in den Vereinigten Staaten. Dorthin kehrt sie auch immer wieder zurück. Wenn sie hier ist, hält sie europaweit ihre Vorträge.
Rita Prigmore hinterließ bei den Jugendlichen sichtbar Eindruck. Sie verfolgten ihren Vortrag mucksmäuschenstill.
Eingangs hatte Schulleiterin Elisabeth Grimanelis erzählt, wie ihre Oma vom Krieg berichtete und dabei immer traurig wurde und weinte. Deshalb habe sie, Grimanelis, sich immer gewünscht, nie einen Krieg erleben zu müssen. „Die, die damals an der Macht waren, waren keine Menschen, sondern Monster.“
Geschichtslehrerin Daniela Mack hatte die Schüler mit einem Video über Demokratie und einem Kurzvortrag über das sogenannte „Dritte Reich“ vorbereitet. Evamaria Bräuer schließlich sagte mit Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus. „Das Schlimmste ist es, wenn Menschen sich nicht mehr trauen können.“