Im Januar 2012 bekam der Bamberger Schriftsteller Martin Beyer vier Wochen Zeit geschenkt: Ein Literatur-Stipendium im Spreewald, kostbare Tage, winterliche Ruhe vom Alltag als Autor, Dozent, Lektor, Redakteur und Kulturvermittler, um über ein neues Projekt nachzudenken. Seinen Roman „Die Welt in deinen Augen“ hatte er nach zwei Jahren Arbeit schweren Herzens in die Schublade gelegt. Etwas fehlte dem Buch, Beyer kam nicht weiter. Aber da gab es diese vage Idee einer Sammlung von Kurzgeschichten und es gab bereits drei Erzählungen, alle veröffentlicht, eine davon – „Der Mond ist immer schön“ – mit dem Walter-Kempowski-Preis ausgezeichnet.
Was, so fragte sich Martin Beyer in diesen Wintertagen im Spreewald, hielt diese Geschichten zusammen? Und er erkannte, dass sie bereits alles enthalten, was ein größeres Projekt tragen würde: alle – auch die vierte, an der er gerade arbeitete – waren in Zusammenhang mit Musik entstanden, in allen spielte ein gewaltsamer Tod oder die Lebensmüdigkeit des Protagonisten eine Rolle. Und sie spannten den Bogen weit von der Mythologie über historische Ereignisse bis in die Gegenwart.
Von diesem Moment an ging alles sehr schnell. Beyer schrieb ein Exposé, bot es dem kleinen engagierten Hamburger Verlag asphalt & anders an und bekam kurz darauf das ok. Ein knappes Jahr später lag der Erzählband „Mörderballaden“ in den Buchläden. In diesem Sommer erhielt der 36-Jährige dafür den Bayerischen Kunstförderpreis, dotiert mit 5000 Euro, herausgegeben vom Wissenschaftsministerium. Am 17. Oktober wird der Schriftsteller in der Buchhandlung Collibri in Schweinfurt aus den Mörderballaden lesen.
Die Auszeichnung stärkte Martin Beyer zu einem Zeitpunkt, an dem er sich mehr Aufmerksamkeit für sein neues Buch gewünscht hatte. Klar, es gab gute Rezensionen, er hatte einige Lesungen und Auftritte, aber es hätten mehr sein können, sagt der 36-Jährige. Bei einem großen Verlag wären die Mörderballaden vermutlich schnell aus dem Programm verschwunden. Nicht so bei „asphalt & anders“, dem Verlag zweier junger Lektoren, die nur zwei Publikationen pro Jahr veröffentlichen und jedem Buch genug Zeit und Aufmerksamkeit schenken.
Schauen wir uns also die 13 Kurzgeschichten an. Die letzte hat Martin Beyer zusammen mit Judith Wiedemann im Tandem geschrieben. Und nun machen wir doch noch mal einen kleinen Ausflug weg vom Buch. Beyer ist auch Dozent an der Uni Bamberg für Kreatives Schreiben und hat das gemeinsame Schreiben eines erfahrenen Autors mit einem Neuling entwickelt. Um den Jungen ein Forum zu bieten, hat er 2011 das Projekt „Bamberg liest“ mitinitiiert, das sich in nur drei Jahren zu einem spannenden Literatur-Festival mit vielen Veranstaltungen entwickelt hat. Aber zurück zum Buch.
Bei zwei Erzählungen schimmert ein Mythos als Folie durch – diese poetische Formulierung stammt von Beyer selbst – – aber sie spielen in der Jetzt-Zeit und funktionieren auch ohne das Wissen um Jason und Medea oder Orpheus und Eurydike. In „Warum drehst du dich um“ will ein Mann seine Geliebte auslösen. Doch die Entführer treiben ein böses Spiel mit ihm. Als er sich entgegen der Abmachung umdreht, wird die Frau erschossen.
In „Stammbaum“ geht es um einen Mord, der sich wirklich ereignet hat – in der Familie von Martin Beyers Frau. Seine Schwiegermutter hat ihm die Geschichte erzählt, Martin Beyer hat sie stark verfremdet, schreibt nicht über die grausame Tat an sich, sondern über ihre Auswirkungen auf eine Frau im Jahr 2012. In der Erzählung „Der Mond ist immer schön“ wird der Leser Zeuge der Ermordung des chilenischen Sängers Victor Jara während des Pinochet-Putsches gegen Salvador Allende 1973. Immer wieder hörte Beyer Jaras berührendes Lied „El Lazo“.
Zu jeder Erzählung gibt es einen Song. Die „Ballade von Steven Tillerman“, einem Fischer, der nur für die Touristen seine Netze auswirft, beispielsweise ist die Literarisierung des Musikvideos zum Song „Sirens“ der Band I like train. Eine andere Lieblingsband von Beyer ist Turin Brakes. Ein Satz aus deren Song „The Door“ über einen Menschen, der die Wahl hat, durch eine Türe zu gehen oder es bleiben zu lassen, hat ihn zur Story vom Future Boy inspiriert (Titel: „Die Kleidung der traurigen Leute“). Auch dieser Boy ist so ein Lebens-Erschöpfter. Aber er entscheidet sich, die Türe seiner Wohnung zu öffnen, obwohl sich im Treppenhaus eine seltsame Szene abspielt. Am Ende landet er in einem Swimmingpool. Ob er das überlebt, bleibt offen.
Diese Geschichte verkörpert am stärksten die Fragen, die Martin Beyer bewegen. Was bringt einen Menschen dazu, Türen zu öffnen, eine Schwelle zu überschreiten, sich einer neuen Situation zu stellen? Beyer liebt dieses Motiv, es taucht immer wieder in seinem Werk auf. Auch er selbst muss Schwellen überschreiten, er muss sich in die Köpfe von Mördern und Selbstmördern versetzen, muss sich in Situationen begeben, in denen es keine Sicherheit gibt – gedanklich und real als freischaffender Schriftsteller. Martin Beyer will „Möglichkeitsräume“ betreten und mit Hilfe der Sprache ausloten.
Früher hat er sich die Frage gestellt, ob ein Künstler Leid oder andere Grenzerfahrungen braucht, wie es uns das Klischee glauben machen will. Hat das Werk eines Georg Trakl, der exzessiv getrunken, Drogen konsumiert und schließlich Selbstmord begangen hat, einen tieferen Wert als das Buch eines Schriftstellers in bürgerlichen Verhältnissen? Über Trakl hat Martin Beyer übrigens seinen 2009 erschienenen Roman „Alle Wasser laufen ins Meer geschrieben“. Und es war heilsam zu erkennen, dass ein Künstler nicht in dieser Radikalität leben muss, um gut schreiben zu können. Beyers Blick ist anders, vielleicht nüchterner, aber ebenso legitim.
Bliebe noch zu erwähnen, dass der 1976 in Frankfurt Geborene schon als Schüler geschrieben und mit 18 seine erste Erzählung veröffentlicht hat. Während des Germanistikstudiums in Bamberg mit Berufsziel Lektor hat er gemerkt, dass er ohne Schreiben nicht leben kann. Seit 1995 sind mehrere Romane und Erzählungen erschienen, einige mit Preisen ausgezeichnet. Martin Beyer unterrichtet an der Uni, bietet Kommunen und Firmen Workshops an, wie sie mit Hilfe von Geschichten ihre Außendarstellung verbessern können und er fördert den Nachwuchs. Zwischendurch nimmt er sich immer wieder mehrere Wochen Zeit, um nur zu schreiben. Derzeit entsteht ein neuer Roman über zwei Brüder, die in einem Hochhaus leben und ganz unterschiedlich mit dem Auseinanderbrechen ihrer Familien umgehen. Auch in diesem Roman werden viele Türen auf- und zugehen.
Mörderballaden: Lesung mit Martin Beyer, Buchhandlung Collibri, 17. Oktober, 20 Uhr. Mit Musik der Schweinfurter Sängerin Tarja Schmitt. Mehr über das Buch und die Songs auf Beyers Website: www.hinter-den-tueren.de.