Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel, strömten unzählige Ost- und Westberliner an die Grenzübergänge. Mittendrin war Anita Kaltenbach aus Schweinfurt – durch puren Zufall.
Eigentlich wollte Kaltenbach, die damals noch in Göttingen wohnte, nur Freunde in Charlottenburg in West-Berlin besuchen. „Das habe ich häufig gemacht. Zu der Zeit bin ich fast jedes zweite Wochenende nach Berlin gefahren“, erzählt Kaltenbach, die heute Leiterin der Schweinfurter Stadtbibliothek ist.
Als sie am Nachmittag des 9. November, ein Donnerstag, nach Berlin aufbricht, ist alles wie immer. Am Grenzübergang Helmstedt in Niedersachsen wird Kaltenbach in ihrem VW Golf zunächst von DDR-Grenzbeamten kontrolliert, bevor sie auf der Transitstrecke durch Ostdeutschland Richtung Berlin fahren darf. „Gefilzt worden bin ich an den Grenzübergängen nie“, erzählt Kaltenbach. Allerdings ist es Westdeutschen verboten, von der Autobahn quer durch das heutige Sachsen-Anhalt und Brandenburg abzufahren oder Kontakt mit DDR-Bürgern aufzunehmen.
Gegen Abend kommt Kaltenbach am Grenzübergang Dreilinden an, um nach West-Berlin und damit zurück in die BRD einzureisen. Wie immer werden die Autos dort nacheinander abgefertigt. Kaltenbach, die an diesem Tag alleine reist, kennt die Prozedur.
Doch was dann passiert, überrascht sie völlig. Ein uniformierter ostdeutscher Grenzer kommt an den Wagen und bittet sie darum, vier Fußgänger mit nach Westberlin zu nehmen. „Da stiegen dann vier junge Leute, alles Ostdeutsche, bei mir in den Wagen und wir durften durchfahren“, sagt Kaltenbach, die völlig überrumpelt ist, den Anweisungen des Uniformträgers aber einfach folgt. „Wenn der das sagt“, denkt sie sich. Es geht über die Grenze, die vier Ostdeutschen wollen zum Kurfürstendamm. Kaltenbach setzt sie ab und fährt weiter zu ihren Freunden.
Was Anita Kaltenbach zu diesem Zeitpunkt vielleicht ahnt, aber nicht sicher weiß: Die Berliner Mauer ist gefallen. Die Grenzen sind offen, zum ersten Mal seit 1961. Während Kaltenbach auf der Transitautobahn durch Ostdeutschland fährt, ereignet sich in Berlin Historisches. Politbüro und Ministerrat der sich langsam auflösenden DDR beschließen am 9. November ein neues Reisegesetz, das es DDR-Bürgern erlaubt, ganz legal auszureisen.
Offiziell gemacht werden soll das Ganze erst am nächsten Tag – aber Politbüro-Mitglied Günter Schabowski verplappert sich noch am Abend auf einer Pressekonferenz. Daraufhin strömen Ost- und West-Berliner an die Mauer und an die vielen Grenzübergänge in der Stadt. Die Grenzsoldaten sind genauso überrascht wie die Bevölkerung, aber sie setzen den Menschenmassen nichts entgegen und lassen die Leute passieren.
Dass Anita Kaltenbach bei ihrer Berlin-Reise genau diesen Moment der friedlichen Maueröffnung erwischt hat, ist purer Zufall. Richtig realisieren kann sie das Ende der innerdeutschen Grenze erst in den Tagen danach. „Ich war ja im Auto, ich wusste von alldem nichts“, sagt sie. Die Montagsdemonstrationen in der DDR habe sie in den Monaten zuvor zwar mitbekommen. „Aber damit habe ich nicht gerechnet.“ So wird Anita Kaltenbach ganz zufällig zur Zeugin eines Stücks Zeitgeschichte.
Ein paar Tage später trifft sie mit ihren Freunden in einer Kneipe auf Touristen aus England. Die fragen sie, ob sie als Deutsche nach dem Fall der Mauer jetzt an die Wiedervereinigung glaubt. Kaltenbachs Antwort: „Nobody thinks about that!“ (Keiner denkt über so etwas nach.) Nicht einmal ein Jahr später ist Deutschland wieder ein Land.