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DITTELBRUNN
Mit Nadel und Farben: Ein Besuch auf der Tattoo-Messe
Tätowierungen haben immer noch ein verruchtes Image, dabei sind sie längst ganz normal. Ein Besuch auf der 1. Tattoo & Art Convention in Dittelbrunn.
Von unserem Redaktionsmitglied Nike Bodenbach
 |  aktualisiert: 22.12.2015 14:40 Uhr

Sie heißen Caramel, Dark Chocolate oder Raspberry, aber sie sind nicht zum Essen. Sie halten sich ewig, und zwar unter der Haut. In winzige gelbe Tigelchen abgefüllt stehen sie aufgereiht neben Joe. Joe ist Tätowierer, Raspberry und Co. die Namen der Farben, die jetzt in die Rückseite von Heinos („Ja, wie der Schlagersänger.“) Oberschenkel wandern.

Joe stippt die Nadel seiner Tätowiermaschine in einen Tigel, spannt Heinos Haut mit Daumen und Mittelfinger. Kurz und rhythmisch drückt Joe die Nadel in die Haut. Heino liegt auf dem Bauch und bewegt sich nicht. Man könnte meinen, er schläft. Es ist längst nicht sein erstes Tattoo, und Joes erst recht nicht.

Fotoserie
Fotoserie

Mit rechts führt Joe die Tätowiermaschine, in der linken Hand hält er ein zerknülltes Stück Küchenrolle. Ein paar Stiche, dann wischt er mit dem Papier drüber. Das saugt die überschüssige Farbe ein und Joe kann die Pigmente unter der Haut erkennen. Vor den nächsten Stichen ein bisschen Vaseline, davon hat Joe einen kleinen Vorrat neben dem Tattoo auf Heinos Oberschenkel geparkt. Auf Heinos Hintern liegt die Vorlage: Das Porträt von Paul Bearer, verstorbener Manager des amerikanischen Wrestlers „The Undertaker“. Eine verrückte Kunstfigur, ein blasser Mann mit Urne als Requisit in der Hand.

Joe arbeitet sich konzentriert voran. Taucht die Nadel in zwei verschiedene Rosa-Töne und mischt daraus den schweinchenfarbenen Hautton des Wrestling-Managers. Er sitzt gerade, sein Blick wandert zwischen Heinos Bein und der Vorlage hin und her.

Es scheint ihn nicht zu irritieren, dass er gerade von vielen Menschen beobachtet wird. Heute sitzt er nicht in seinem Schweinfurter Studio, sondern im Marienbachzentrum in Dittelbrunn. Es ist die 1. Schweinfurter Tattoo & Art Convention, eine Messe für Tätowierer, Piercer und szeneverwandte Künstler. Etwa 90 Aussteller sind gekommen. Proppenvoll ist die Halle, die Luft scheint vom monotonen Surren der Tätowiermaschinen zu vibrieren.

Joes Stand ist einer der größeren, davor drängen sich Volltätowierte und Leute mit viel Metall im Gesicht. Aber auch Familienväter, staunende Teenager und Frauen mittleren Alters im Anorak. Junge Mädchen lassen sich mit einem schlanken Mann in weißen Pumps, Korsett und Perücke fotografieren, die Drag Queen „Fräulein Baybe Strich“. Berühmtheiten wie der meistgepiercte Mann der Welt, der Dortmunder Informatiker Rolf Buchholz (453 Piercings), flanieren ebenfalls durch die Halle, in der das nächste große Event ein Konzert des Schlager-Duos „Die Amigos“ sein wird.

Ganz normale Leute schnuppern die Luft eines nur oberflächlich verruchten Geschäfts. Tattoos sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Etwa zwölf Millionen Deutsche haben ein Tattoo, rechneten Tattoo- und Piercing-Organisationen im vergangenen Jahr dem Gesundheitsausschuss des Bundestages vor. Die rund 7000 Tattoo- und Piercing-Studios in Deutschland erwirtschaften rund 50 Millionen Euro Umsatz pro Jahr, beschäftigen 20 000 Personen. Eine repräsentative Umfrage des Emnid Instituts im Auftrag der „Bild am Sonntag“ ergab 2012, dass jeder zehnte Deutsche ab 14 Jahren ein Tattoo trägt. Das Marienbachzentrum wird nicht mit Heavy Metal beschallt, sondern mit massenkompatiblen Popsongs aus den Charts.

„Das sind alles auch Geschäftsleute hier“, sagt Joe, der eigentlich Michael Seufert heißt. Joe ist sein Künstlername und der ganze Lebensstil inklusive Ami-Schlitten und Harley Davidson sein Ding. Aber von den Klischees bestehend aus Bierpullen, Rockergangs und leichten Mädchen will er nichts wissen. „Wir sind ganz normale Leute mit Kindern, mit Familien.“

Geld verdient Joe, der seit 20 Jahren sticht, vor allem mit den „Brot-und-Butter-Tattoos“ – also meist kleine, modische Motive. Sterne waren jetzt länger angesagt, das sei aber vorbei, meint Joe. Er hat ursprünglich mal Werkzeugmacher gelernt und war dann Lokführer, aber Malen und Zeichnen waren schon immer seine Leidenschaften.

„Man muss auch ein kleiner Designer sein“, sagt Joe. Das Foto des Wrestling-Managers, das Heino mitgebracht hatte, hat er mit Photoshop bearbeitet. Hand und Urne etwas näher zum Gesicht gerückt, damit das Motiv kompakter wirkt. Später will Heino auch noch den Wrestler „The Undertaker“ von Joe gestochen bekommen. Eine Collage mit Szenen aus Filmen von Quentin Tarantino an der Wade stammt auch aus der Nadel von Joe. Heino kommt mit einer Idee, Joe macht ein funktionierendes Motiv daraus. „Da braucht man auch Vertrauen“, sagt Heino. Er hat offenbar so viel davon, dass er Joe beim Stechen nicht mal zuschaut. Ab und zu schaut er in einen Handspiegel, um das Geschehen an seiner Kehrseite zu beobachten. Die Augenpaare der Zuschauer kleben an seinem Oberschenkel, der Manager bekommt langsam Farbe ins Gesicht.

 
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    Schönheit liegt im Auge des Betrachters
    Richtig, denn das war ja auch nur meine Meinung und die ist hoffentlich noch erlaubt, bei Ihnen aber anscheinend nicht erwünscht. Mit den salonfähigen Tattoos meinte ich die der letzten 15-20 Jahren und nicht die Knastkreuze mit dem Strahlenkranz etc. der 70er. Die waren und sind sch.... und assich.
    Es kann jeder mit seinem Körper machen was er will, aber ich will auch meine Meinung darüber kundtun dürfen, denn Toleranz ist nicht einseitig, aber augenscheinlich ist es so, dass diejenigen, die ständig Toleranz fordern nicht damit einverstanden sind, auch Toleranz zu geben. Sie sind das beste Beispiel..... Ich habe fertig....
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    Zitat:
    das war ja auch nur meine Meinung und die ist hoffentlich noch erlaubt

    Spielen Sie doch nicht gleich panisch die Man-wird-es-ja-wohl-noch-sagen-dürfen-Meinungsfreiheit-Karte.
    Niemand will Ihnen Ihre Meinung nehmen.
    Ich habe lediglich auf das Paradox in Ihrer Äußerung aufmerksam gemacht, daß Sie quasi im selben Atemzug Tätowierungen - zumindest so lange sie in Ihren Augen "ästhetisch" sind - als endlich gesellschaftlich akzeptiert hinstellen, andere Körpermodifikationen aber als ungesund und hässlich ächten - so wie es "früher" bei Tattoos üblich war.

    Zitat:
    augenscheinlich ist es so, dass diejenigen, die ständig Toleranz fordern nicht damit einverstanden sind, auch Toleranz zu geben. Sie sind das beste Beispiel

    Kritik hat doch nichts mit Intoleranz zu tun.
    Eine gegenläufige Meinung zu ertragen, also zu tolerieren, und - sofern gerechtfertigt - die Kritik anzunehmen ist Teil eines Diskurses, eines Dialogs, eines Austauschs. Alles andere ist ein Monolog.
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    Tattoos sind ja Kunstwerke und Gott sei Dank auch salonfähig geworden. Sorry, aber rumzulaufen wie ein Alteisenhändler mit tellergroßen Löchern in den Ohren ist weder schön noch gesund. Hoffentlich wird dies NIE salonfähig.....
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    Zitat:
    Tattoos sind ja Kunstwerke und Gott sei Dank auch salonfähig [...] tellergroßen Löchern in den Ohren ist weder schön noch gesund.

    Sie merken tatsächlich nicht, wie sie exakt dieselben irrationalen Kriterien, die sie "Gott sei Dank" bzgl. Tattoos (vermeintlich) für überholt halten, an anderen Körpermodifikationen anlegen, oder?

    Was Kunst jenseits des Ergebnisses eines kreativen Prozesses ist, ist unklar.
    Gesund ist beides in dem Sinne nicht, daß am Körper keine medizinisch nicht indizierten Eingriffe vorgenommen werden sollten.
    Schönheit liegt im Auge des Betrachters bzw. gründet sich auf sozialen Konventionen, die sich - vgl. Tätowierungen - im Laufe der Zeit ändern.

    Zitat:
    Hoffentlich wird dies NIE salonfähig.....

    Genau das dürften auch Kritiker von Tattoos gesagt haben.

    Hoffentlich wird endlich salonfähig, daß Menschen frei über ihren eigenen Körper bestimmen dürfen, ohne sich Anfeindungen ausgesetzt zu sehen.
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