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Schweinfurt
Mit der AWO-Chefin durchs Fegefeuer
Blickten zurück ins goldene Zeitalter des Schweinfurter Ehrenamts: Die AWO-Urgesteine Traudl Steinmüller, Heidi Scheuring, Ingrid Senft und Rainer Wichtermann beim Interview mit Moderator Bernd Meidel (von links).
Foto: Uwe Eichler | Blickten zurück ins goldene Zeitalter des Schweinfurter Ehrenamts: Die AWO-Urgesteine Traudl Steinmüller, Heidi Scheuring, Ingrid Senft und Rainer Wichtermann beim Interview mit Moderator Bernd Meidel (von links).
Uwe Eichler
 |  aktualisiert: 23.07.2023 04:15 Uhr

Wenn Landrat Florian Töpper in den Bus steigt, dann geschieht das öfters in der Gretel-Baumbach-Straße am Hainig: Sowohl der oberste Kreisvertreter als auch Oberbürgermeister Sebastian Remelé berichteten von persönlichen Beziehungen zur Arbeiterwohlfahrt, am Samstag beim Festakt "100 Jahre AWO Schweinfurt" in der Rathausdiele.

Zum Auftakt gab es schmissige Arbeiterlieder des Jürgen-Klose-Ensembles, aushilfsweise dirigiert von Lorenz Schmidt: Klassiker wie das "Einheitsfrontlied", "Brot und Rosen" oder "Wenn wir schreiten Seit an Seit" erinnerten daran, dass die AWO ein Kind der Sozialdemokratie ist. Dazu kam ein Medley aus Bert Brechts Dreigroschenoper sowie ein musikalischer "Wunsch nach Frieden".

CSU-OB Remelé: "Wir sind uns unserer Wurzeln in der Arbeiterbewegung bewusst"

Florian Töpper (SPD) blickte ins Krisenjahr 1923, als Demokratie und Republik in Deutschland auf der Kippe standen, die Zeiten extremer waren als heute. "Wir sind uns unserer Wurzeln in der Arbeiterbewegung bewusst", sagte CSU-OB Remelé und meinte die Stadt selbst, mit Blick auf Bauverein und Gartenstadt, die etwa zur gleichen Zeit heranwuchsen wie die AWO. Mit Angeboten in der Kinder- und Seniorenbetreuung, Hilfe für Migranten und internationale Studierende ist die AWO aus dem Stadtleben nicht mehr wegzudenken.

Mit der AWO groß geworden: Um 1960 gab es bereits einen Kindergarten in der Niederwerrner Straße, unweit des Jugendwohnheims. Ganz links steht Betreuerin Heidi Scheuring, eine der Zeitzeuginnen beim Festakt.
Foto: Archiv Holger Milde | Mit der AWO groß geworden: Um 1960 gab es bereits einen Kindergarten in der Niederwerrner Straße, unweit des Jugendwohnheims. Ganz links steht Betreuerin Heidi Scheuring, eine der Zeitzeuginnen beim Festakt.

Rund 250 Mitglieder zählt der Stadtverein, dazu gesellt sich noch eine AWO Schweinfurt-Land. Ebenfalls auf der Bühne standen Stefan Wolfshörndl als AWO-Landeschef sowie der Vize-Bezirksvorsitzende Stefan Rottmann, zugleich Bürgermeister in Schonungen, wo die AWO einen Naturkindergarten sowie ein Seniorenzentrum betreibt. Insgesamt 38.000 hauptamtliche Beschäftigte arbeiten für die AWO Bayern, bei rund 60.000 Mitgliedern. "Es geht nicht nur um Kitas, es geht nicht nur um Pflege – es geht auch um Demokratie", waren sich Wolfshörndl und Rottmann einig.

Gendergerechte Sprache schon vor 100 Jahren ein Affront

Holger Milde ging im Festvortrag zurück in die Zeit der Kriegs- und Arbeitsinvaliden, der Suppenküchen, der Inflation und Straßenschlachten nach dem Ersten Weltkrieg: 1919 hatte Marie Juchacz, erste Rednerin im Reichstag überhaupt, die deutschlandweite AWO gegründet – und mit der gendergerechten Anrede "Meine Herren und Damen" noch für Aufregung im hohen Haus gesorgt.

Frauenpower war auch in der Arbeiterstadt Schweinfurt gefragt, unter dem OB und Genossen Benno Merkle. Am 12. Februar 1923 lud der Urvorsitzende Josef Selig zur Gründungsversammlung ins Gewerkschaftshaus in der Luitpoldstraße ein. Eine Enkelin von Stadträtin und Mitgründerin Dora Starz saß jetzt im Publikum. Nach der Auflösung 1933, dem Zweiten Weltkrieg und Wiederbegründung 1946 packte Gretel Baumbach den Neuanfang an. "Eine Stunde mit Gretel Baumbach ist wie eine Stunde im Fegefeuer", soll OB Georg Wichtermann laut dessen Sohn Rainer geseufzt haben.

Am Hainig verewigt: Gretel Baumbach hat als erste Vorsitzende nach 1945 die AWO vielseitig (wieder) aufgebaut.
Foto: Uwe Eichler | Am Hainig verewigt: Gretel Baumbach hat als erste Vorsitzende nach 1945 die AWO vielseitig (wieder) aufgebaut.

Bis 1974 prägte die energische Vorsitzende eine Zeit voller Baufreude. In den 1950ern starteten das Jugendwohnheim in der Nirderwerrner Straße und die Stadtranderholung auf der Jägerwiese im Zeller Grund. 1963 folgte das erste AWO-Studentenwohnheim in Bayern, 1968 ein Seniorenwohnheim, 1973 der Bergl-Kindergarten. Im selben Jahr wurde die Alwine-Schäfer-Kinderkrippe in der Auenstraße zur AWO-Kita.

Amanda Käß übernahm dann das Ruder, ihr Name ist untrennbar mit der Stadtranderholung verbunden. Ingrid Senft, Tochter von Käß, berichtet davon, dass für die Mutter an Heiligabend die Bewirtung Notleidender immer Priorität hatte. Heidi Scheuring hat noch 50 Pfennig Monatsbeitrag kassiert, Traudl Steinmüller 44 Socken für die Waldgruppe beigesteuert.

Leidenschaftliche Kämpfe in der Sozialpolitik als Markenkern

Bürgermeister und Nachfolger Herbert Müller (1995 bis 2001) galt als "soziales Gewissen der Stadt" schlechthin. AWO-Chef Werner Bonengel weihte 2008 mit Familienministerin Ursula von der Leyen ein (kurzlebiges) Mehrgenerationenhaus am Kornmarkt ein. Der Name Ralf Sander, Chef ab 2011, steht für eine Zeit der wirtschaftlichen Konsolidierung und der Sanierungen. Als Sander 2019 verstarb, übernahm der heutige Dreiervorstand das Ruder. Mit dem Ukrainekrieg schließt sich leider thematisch der Kreis ins Jahr 1919: "Kriege dienen einer Minderheit und schaden der Mehrheit", lautete Mildes Fazit.

Fotoserie

Mit Traudl Steinmüller, Heidi Scheuring, Ingrid Senft sowie Rainer Wichtermann blickten AWO-Zeitzeugen an diesem Tag auf leidenschaftliche Kämpfe in der Sozialpolitik zurück. Kernvorstand, Betriebsrat und Kita-Vertreterinnen beschworen zuletzt die Einheit der AWO-Familie, die am Sonntag mit einem Familienfest auf der Jägerwiese gefeiert wurde: Mit Marionettenkünstler Hakan Arisoy, Einblicken in Kaninchenstall und Kitaräume der Waldgruppe, Spielbus und flotten Gitarrenriffs von Steffi List.

 
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