Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen, das sagt William Faulkner und Sigmund Rosenbaum, der Held aus Michael Görings neuem Roman, zitiert diesen Satz als Erfahrung am eigenen Leib. Bei der Lesung des Autors in der Disharmonie kam zur Sprache, was die Vergangenheit in uns anrichtet, wie sie in uns weiterwirkt und unser Leben beeinflusst. Ein Jahrhundert deutscher Zeitgeschichte hat Göring in seinem Buch aufgegriffen, das Hotel Dellbrück in Lippstadt ist Dreh- und Angelpunkt seiner Figuren.
Die Wirkungsmacht der Vergangenheit geschieht oft ganz unbewußt. So ist sich auch Frido, Sigmunds Sohn manchmal nicht ganz seiner Beweggründe sicher. Geboren im Jahr 1955, erlebt er die Geschichte der Bundesrepublik in all ihren Höhen und Tiefen, er kann auch die Beweggründe seines Vaters oft nicht verstehen, der als junger Mann den Faschismus und die Kriegsjahre erlitten hat. Frido geht nach Indien, nach Australien und wieder zurück nach Deutschland und vollzieht in Vielem die Suchbewegungen seines Vaters.
Göring versteht es, sein Publikum mitzunehmen in die verschiedenen Zeitphasen des Romans, ganz unprätentiös schildert er Sigmunds Flucht nach England und versteht es dabei doch meisterlich, die Angst und die Nöte des 15-jährigen Knaben und den Kummer des Abschieds von seinen Lieben zu vermitteln. Was ist das für eine Zeit, in der Kinder mutterseelenallein in eine fremde Welt geschickt werden? Und wie ist den Menschen dabei zumute? Auch denen, die die Kinder aufnehmen? England hat vor dem Krieg, als die Gräueltaten der Nazis schon absehbar waren, 10 000 jüdische Kinder aufgenommen. In relativ kurzer Zeit meisterte das Land diese bürokratische Herausforderung und rettete viele Menschenleben.
Eine Parallele ins Jahr 2015
Eine Parallele zum Jahr 2015 drängt sich auf und Göring hat den Bezug genutzt, um einen Bogen des Mitgefühls und des Verstehens zu spannen, denn, und hier beginnt die ganze Geschichte eigentlich, im Hotel Dellbrück laufen alle Fäden zusammen. Dort ist das Kind Sigmund aufgewachsen, von dort musste es fliehen, dorthin kehrt im Jahr 2018 sein Sohn Frido als erwachsener Mann zurück und das Hotel ist inzwischen ein Flüchtlingsheim geworden. Frido trifft den Syrer Djad, der mit 17 Jahren ohne seine Eltern fliehen musste. Auch Djad will irgendwann wieder zurück nach Aleppo "Hier ist nicht zu Hause, hier ist Reise, weißt du, nicht meine Seele, nicht Heimat."
Wir Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, die sich als Europäer vielleicht auch immer wieder mit den Fragen von Heimat und Entwurzelung herumschlagen, erfahren, dass auch die Frage von Religion und Seele in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist. Göring verknüpft auch dieses Thema gekonnt in seinem Roman mit der Geschichte, denn Sigmund Rosenbaum, das jüdische Kind, wächst bei Katholiken auf, wird in England zum Methodisten und sein Sohn Frido, der sich zwar als Christ versteht, lernt den Buddhismus kennen und bezeichnet sich doch auch als Atheist.
Nach der Lesung verweist Göring im Gespräch auf die Bücher von Sabine Bode, die sehr versiert über die Geschichte der Kriegskinder und der Kriegsenkel und damit über die Geschichte von uns allen schreibt. Wir tragen die Wunden unserer Väter und unserer Mütter in uns. Michael Görings Roman macht uns ein bisschen aufmerksam darauf. Und zeigt, wie manches auch wieder gut werden kann, wie auch Heiterkeit und Leichtigkeit ihren Platz finden können.