
Deutschlandweit feiert die Arbeiterwohlfahrt in diesem Jahr das 100-jährige Gründungsjubiläum. Aus diesem Grunde lud der Ortsverein Gerolzhofen zu seiner zweiten von insgesamt drei Veranstaltungen in die evangelische Erlöserkirche ein. Nach der Ausstellung über die Gründerin der AWO, Marie Juchacz, in der Stadtbibliothek stand nun ein Vortrag über sie im Mittelpunkt. Die Schirmherrschaft übernahm Landrat Florian Töpper. Ulrike Hahn, Vorsitzende des Ortsvereins Gerolzhofen, freute sich über die vielen Gäste und kündigte einen spannenden und unterhaltsamen Abend an. Zweiter Bürgermeister Erich Servatius hob hervor, dass die Stadt die AWO immer unterstützen werde, sich aber, wie angetragen, kurz halten werde mit seiner Rede, da "heute Abend die Frauen das Wort ergreifen".
Doch zuvor ergriff Florian Töpper das Wort. "In diesem Jahr stehen zahlreiche Jubiläen und Gedenktage an. Vor 30 Jahren fiel die Mauer, vor 50 Jahren landeten die ersten Menschen auf dem Mond, vor 70 Jahren trat das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft, vor 80 Jahren begann der Zweite Weltkrieg, vor 100 Jahren erstritten sich die Frauen das Wahlrecht, und am 19. Februar 1919 wurde die erste Rede von einer Frau in der Weimarer Nationalversammlung gehalten – von Marie Juchacz, der Gründerin der AWO".
Sie stehe, so der Landrat weiter, für Werte wie soziale Sicherung, soziale Arbeit, soziales Engagement und ein solidarisches Miteinander. Gerade in den Zeiten des Umbruchs, des Wandels brauche es einen Einsatz für soziale Gerechtigkeit, damals wie heute. Daneben sei es wichtig, das Erreichte mit verschiedenen Veranstaltungen in Erinnerung zu rufen, aufzuzeigen, wie schwierig diese Wege waren. Und dass die Freiheit, die Entscheidungsfreiheit, das demokratische Wahlrecht auch festgehalten werde. Obwohl viel erreicht wurde, gebe es noch nicht in allen Bereichen gleiche Rechte und gleiche Chancen, sagte Florian Töpper.
"Ein Weib ein Wort"
"Meine Herren und Damen", so wie Gründerin Marie Juchacz vor 100 Jahren im Reichstag begann, wurden die Anwesenden von der AWO- Kreisvorsitzenden Gaby Sander begrüßt. "Ich habe das Glück nicht kritisch beäugt und abfällig belächelt zu werden, denn heute 100 Jahre später gehören wir Frauen in allen Lebensbereichen mit dazu, auf allen Ebenen der Vereine, der Berufswelt und der Politik". Die Grundlagen hierfür legten aber, die Frauen, die vor hundert Jahren aufstanden und Gleichberechtigung, Mitbestimmung und Solidarität einforderten. Heute sei klar, Frauen können dieselben Arbeiten ausführen, können dasselbe leisten wie Männer, man müsse es nur zulassen.
Der Höhepunkt der Feier war zweifellos der brillante, wissenschaftliche, aber auch mit sehr viel Herzblut vorgetragene Vortrag "Ein Weib ein Wort". Nadja Bennewitz, in Gerolzhofen durchaus keine Unbekannte mehr, fing mit einer Tondokumentation der Rede von SPD-Politikerin Marie Juchacz zur Wahlaufforderung zum vierten Deutschen Reichstag im Mai 1928 an. Sie gehörte schon seit neun Jahren als Parlamentarierin an. Bekannt geworden sei sie als Begründerin der Arbeiterwohlfahrt, im Dezember 1919. Zitat: "Dabei ….ist voranzustellen, was wir sind und was wir wollen. Arbeiterwohlfahrt – also Wohlfahrt nur für Arbeiter? Nein - eine Wohlfahrtspflege, ausgeübt durch die Arbeiterschaft."
Nicht Minderwertigkeit oder persönliche Schuld seien für eine Notlage verantwortlich zu machen. Das Proletariat könne nicht nur Empfänger bürgerlicher Wohltätigkeit sein, sondern vielmehr selbst aktiv soziale Arbeit leisten. Die AWO rief in der Folgezeit Schulungseinrichtungen, Kindergärten, Erholungs- und Clubräume ins Leben. Doch nicht nur dadurch zeichnet sich Marie aus. Sie war auch die Frau, die als erste in einem deutschen Parlament das Wort ergriff, nicht mehr überwacht von einem "Polizeikommissär", nicht mehr auf offener Straße wie sonst, sondern offiziell zum Wort gerufen.
Weitere starke Frauen beleuchtet
Nadja Bennewitz stellte aber nicht nur Marie Juchacz vor, sie spielte glühende Reden von der Kommunistin, Frauenrechtlerin und Friedensaktivistin Clara Zetkin ein, die im Alter von 76 Jahren zur Alterspräsidentin des Reichstages ernannt wurde und mit Vehemenz vor den Nationalsozialisten warnte, obwohl man ihr vorher drohte, man werde sie vom Rednerpult stoßen und mit Fußtritten davon jagen, weil "dies die verfluchte rote Brut verdiene." In der einschlägigen Presse wurde sie als "Sau" betitelt. Sie ließ sich jedoch nicht einschüchtern und rief zu einer gemeinsamen Einheitsfront der linken Kräfte auf. Der bitterste Moment in ihrem Leben dürfte wohl die Übergabe des Amtes des Ministerpräsidenten an Hermann Göring gewesen sein.
Mit den Worten von Julie Meyer, die sich in der Weimarer Republik einmischte, beendete Nadja Bennewitz ihren aufschlussreichen, bis in die Jetztzeit gültigen Vortrag: "Es gibt nichts langweiligeres, als wenn drei Männer hintereinander reden."
Nadja Bennewitz arbeitet nach ihrem abgeschlossenen Magisterstudium der Neueren und Mittleren Geschichte seit 1996 als selbstständige Historikerin in Nürnberg mit den Arbeitsschwerpunkten auf historischer Frauen- und Geschlechterforschung. Für ihre Verdienste in der Vermittlung von Geschichte erhielt sie schon zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Die Historikerin referierte schon zweimal in Gerolzhofen. Einmal mit dem amüsanten Vortrag "So sie in Mannskleidern funden wird" und im letzten Jahr mit "100 Jahre Wahlrecht der Frauen". Nach der Veranstaltung stand sie noch zu Diskussionen zur Verfügung.