Alleine dieser letzte Satz, herausgeschrien mit der ganzen Wut und Verzweiflung einer trauernden Mutter, die ihren Sohn grausam zu Tode gefoltert verloren hat, lässt einen erschauen: „Die Welt ist es nicht wert, dass er sie erlöst hat.“ Sagt Maria. Mutter Jesu'. Mutter des Erlösers. Gottes Sohn.
Ist das jetzt Blasphemie? Ist das die Wahrheit, der sich Maria verpflichtet hat, wie sie betont? Wieso sieht die Mutter des Erlösers nicht, dass er der Auserwählte ist? Eine Flut von Gedanken schwirrt von der ersten bis zur 95. Minute durch den Kopf, während man Nicole Heesters Monolog in „Marias Testament“ hört, jede Geste wahrnehmend, jedes Wort aufsaugt. Für Heesters Leistung gibt es nur ein Wort: brillant.
Superlative soll man dosiert einsetzen. Doch die 81 Jahre alte Hamburgerin, Tochter von Johannes Heesters, ist wohl mit die beste Schauspielerin, die in den vergangenen Jahren in Schweinfurt aufgetreten ist. Ein Glücksfall, wie auch Theaterchef Christian Kreppel betonte, der Heesters nach der mit stehend dargebrachten Ovationen bedachten Premiere einen großen Strauß Blumen überreichte. Heesters bestand darauf, dass nach der deutschsprachigen Premiere des Stücks im Februar in den Hamburger Kammerspielen Schweinfurt der einzige Ort außerhalb der Hansestadt ist, wo das Stück aufgeführt wird. Das hiesige Theater hat sie von früheren Auftritten noch in guter Erinnerung.
Konsequente Dekonstruktion
Ihr Auftritt bleibt lange in Erinnerung – wegen ihres Schauspiels, aber auch wegen des kontroversen Themas, bei dem religiöse Zuschauer dazu tendieren könnten, empört zu sein über die konsequente Dekonstruktion Marias, die der Ire Colm Toibin in dem 2011 in Dublin uraufgeführten und später auch am Broadway in New York gezeigten Stück vornimmt. Regisseur Elmar Goerden und Dramaturgin Anja del Caro setzen in der deutschen Fassung ganz auf die Ausstrahlung Heesters und ein reduziertes Bühnenbild mit sehr guter Lichtführung.
Doch warum berührt dieses Stück so ungemein? Wohl, weil der Resonanzraum so groß ist. Wir sind christlich-abendländisch geprägt aufgewachsen, wir wissen wie sich die katholische Kirche nach der Kreuzigung Jesu entwickelt hat. Wir kennen die Bibel womöglich nicht im Wortlaut, wissen aber etwas anzufangen mit den von Heesters geschilderten Szenen der Hochzeit von Kana, der Kreuzigung, der Heilung des Lahmen oder der Auferstehung des Lazarus.
Eine zutiefst menschliche Maria
Die Menschlichkeit Marias, einer der wohl am meisten abgebildeten Figuren der katholischen Ikonografie, liegt der fränkischen Marienverehrung ohnehin zu Grunde. Sie wird durch Heesters Spiel verstärkt – hier steht eine verzweifelte, wütende, ratlose, liebende, trauernde Mutter vor uns. Sie fragt sich, welchen Anteil sie am Tod des Sohnes hat. Daran, dass er aus ihrer Sicht seine Wurzeln verleugnete – „mein Junge wurde zu einem fremden Mann“.
Einer, dem seine Jünger blind folgten und ihn doch nicht vor den römischen Schergen retteten. Einer, der sich selbst als Sohn Gottes bezeichnete, wo er doch eindeutig der Sohn Josefs ist. Natürlich glaubt der aufgeklärte Mensch des 21. Jahrhunderts nicht an die unbefleckte Empfängnis, dennoch ist Marias Testament an dieser Stelle radikal gegen das kirchliche Dogma.
Ebenso bemerkenswert Marias Gedanken zu Lazarus' Auferstehung. Eine göttliche Machtdemonstration, die für den Betroffenen nur in einem zweiten, qualvollen, sinnlosen Tod endet? Kann das wahr sein, dass ausgerechnet Maria, die Mutter des Erlösers, der Meinung ist, irgendwann ist halt einfach Schluss?