Es ist ein schönes Symbol für die Wiedervereinigung und die wiedergewonnene Freiheit der Ostdeutschen: Ein paar Monate nach dem Mauerfall stieg im thüringischen Schmalkalden ein Heißluftballon auf, als einer der Ersten in der DDR-Geschichte. An Bord waren ostdeutsche Ballon-Enthusiasten – und drei Schweinfurter.
Februar 1990: bei Klaus Kispert schellt das Telefon. Am Apparat: Dietmar Jäger aus Schmalkalden. Man wolle die neugewonnenen Freiheiten in der DDR nutzen und einen Ballonverein gründen, berichtet Jäger. Ein Tipp habe nach Schweinfurt geführt – dort besteht seit 1982 der Freiballonclub Franken. Klaus Kispert ist Präsident des Vereins. Nach dem Anruf dauert es nicht lange und die Ostdeutschen sitzen bei Kispert auf der Couch und holen sich von den Schweinfurter Profis Tipps für den Aufbau eines Ballonteams. Mit dabei ist Günter Hübner, einer von damals drei Piloten des Freiballonclubs.
„Sie wollten alles selber herstellen, Körbe flechten und so weiter. Da haben wir ihnen erst einmal erklärt, dass das nach westdeutschem Ballonrecht gar nicht geht“, erzählt Kispert. In der DDR gab es im Prinzip keine private Luftfahrt, Ballonfahrer schon gar nicht. Überliefert ist allerdings ein erfolgreicher Fluchtversuch über die innerdeutsche Grenze. 1979 flohen zwei Familien aus Thüringen mit einer Eigenkonstruktion aus Mantelstoff, Wäscheleinen und Gasflaschen in den Westen. Ein weiterer Fluchtversuch mit einem Ballon endete im März 1989 tödlich: Der Ost-Berliner Winfried Freudenberg überquerte zwar die Grenze, stürzte aber ab und starb. Er gilt als das letzte Todesopfer der Mauer.
Zu Beginn des Jahres 1990, nur wenige Wochen nach dem Fall der Mauer, haben sich die politische Lage und die Stimmung in der DDR schon deutlich gelockert. Dennoch können die Thüringer um Dietmar Jäger nicht ohne Weiteres eine Ballonfahrt unternehmen – erst recht nicht ohne einen geeigneten Ballon. „Also haben wir ihnen gesagt: Wir fahren euch“, berichtet Günter Hübner. Noch am gleichen Nachmittag nehmen sie Dietmar Jäger mit auf eine erste Fahrt vom Flugplatz in Schwebheim bis nach Schonungen.
Jäger ist begeistert und lädt zu einem Gegenbesuch in Schmalkalden ein. Drei Wochen später bricht eine Schweinfurter Delegation um Kispert, Hübner und ihren Vereinskameraden Reiner Göbel nach Thüringen auf. Mit einem Ballon im Anhänger nähern sie sich dem Grenzübergang Eußenhausen in Rhön-Grabfeld. „Wir haben uns vorher bei den Verbänden erkundigt, ob wir mit dem Ballon über die Grenze dürfen. Wirklich Bescheid wusste niemand“, sagt Kispert.
Am Grenzübergang werden die Ballonfahrer erwartungsgemäß zur Seite gewunken. Der ostdeutsche Grenzer ist auf die Werbelogos einer Würzburger Brauerei auf dem Anhänger aufmerksam geworden und vermutet, dass Kispert, Hübner und Göbel Bier in die DDR einführen. „Wir haben ihm dann gesagt: Das ist ein Ballon“, sagt Kispert. Der Grenzer zeigt sich tolerant, bittet aber darum, den Ballon auch wieder mit nach Hause zu nehmen. Aber dann verplappert sich Göbel: „Funkgeräte für den Ballon haben wir natürlich auch dabei.“ Deren Einfuhr in die DDR ist streng verboten. Aber der Grenzer drückt ein Auge zu, wieder mit dem Versprechen, dass die Schweinfurter alles wieder ausführen. Auf den Einfuhrpapieren für die Geräte notiert er pflichtgemäß: „Plus Heißluftballon“.
Als Kispert, Hübner und Göbel in Schmalkalden ankommen, ist der ganze Ort auf den Beinen. „Die Leute haben gejubelt“, sagt Günter Hübner. Die Ballonfahrer richten den Ballon her, als plötzlich zwei VW-Busse neben ihnen bremsen. Hübner und Co. sind völlig überrumpelt, denn aus den Wagen steigt ein weiteres Ballonteam. Die Fahrer haben einen Werbeballon von Sat.1 dabei, den sie eigentlich am Tag darauf in Dresden aufstellen wollen – von dort nämlich berichtet der Fernsehsender über die Volkskammerwahlen vom 18. März. Die Sat.1-Leute fahren am gleichen Grenzübergang in die DDR wie die Schweinfurter Freiballonfahrer, hören von deren Plänen und fahren hinterher.
So erlebt Schmalkalden im März 1990 gleich einen doppelten Ballonstart. „Die ersten im Thüringer Wald waren wir auf jeden Fall“, sagt Hübner. Ob in den Wochen zuvor schon einmal eine Ballonfahrt auf dem Staatsgebiet der DDR stattgefunden hat, lässt sich nicht genau prüfen. Eine der ersten Fahrten überhaupt dürften die Schweinfurter dennoch unternommen haben.
Die Thüringer „Jungfernfahrt“ startet auf einem Bergrücken im Thüringer Wald und führt über Schmalkalden hinweg. Der Ballon erregt Aufmerksamkeit. Günter Hübner landet auf einer Wiese außerhalb der Stadt. „Als wir gelandet sind, ist halb Schmalkalden hinter uns hergerannt“, erzählt Hübner. Für die Schmalkaldener ist der Ballon ein Symbol für ihre neugewonnene Freiheit und die sich abzeichnende Wiedervereinigung. Mittendrin: drei Schweinfurter Ballonfahrer.
Die Delegation aus Franken übernachtet bei den neuen Freunden aus Ostdeutschland. Am nächsten Tag unternimmt Hübner in der Nähe der Stadt eine weitere Fahrt. Im Mai ergibt sich ein weiterer Start, dieses Mal in Jena. Hübner startet auf dem damaligen Platz der Kosmonauten, mitten in der Stadt und neben dem Universitätshochhaus. Ein komplizierter und nicht ganz ungefährlicher Start, aber der Wind spielt mit. Hübner heizt den Ballon stark auf, so dass er ruckartig in die Luft schießt. Wieder schauen hunderte Schaulustige zu. Mit an Bord ist unter anderem ein Chef des damaligen Volkseigenen Betriebs (VEB) Carl Zeiss. „Das war nicht nur für die Jenaer ein Highlight, für uns auch“, sagt Hübner.
Zu den Schmalkaldener Ballon-Pionieren halten die Schweinfurter in den Jahren nach der Wiedervereinigung den Kontakt und helfen beim Aufbau eines Vereins. Günter Hübner übernimmt die Ausbildung einiger Piloten. Bis heute ist er als Ballonfahrer aktiv, allerdings nicht mehr im Verein.
Dafür hat der Schonunger in mehr als 30 Pilotenjahren schon viele Gegenden der Welt aus dem Ballin gesehen: Marokko, Kenia, Nepal, Kapadokien in der Türkei und die chinesischen Seidenstraße. Die Erlebnisse in Thüringen und die Begeisterung der Ostdeutschen sind für ihn trotzdem einer der denkwürdigsten Momente. „So etwas Beeindruckendes habe ich sonst nirgends erlebt“, sagt Hübner.