„Man lernt vieles zu schätzen, was man vorher gar nicht sieht“, stellt Veronika Kimmel fest und ihr Mann Florian ergänzt: „Du freust dich über ganz alltägliche Sachen, weil du sie bewusst wahrnimmst.“ Es ist ein großer Schmerz, der die beiden jungen Leute zu dieser Weltsicht gebracht hat. Ihr zweites Kind, Tochter Lina, kam tot zur Welt. Sie teilen dieses Schicksal mit rund 2000 anderen Eltern in Deutschland jährlich.
Meist wird das Thema totgeschwiegen. Den Betroffenen verschlägt es buchstäblich die Sprache und die nähere Umgebung weiß nicht damit umzugehen. Nicht so in der Familie Kimmel.
Lina drängte in der 26. Woche viel zu früh ins Leben, im Krankenhaus versuchte man noch die Geburt aufzuhalten, aber vergebens. Dennoch, sie hätte durchaus die Chance auf Leben gehabt mit ihren 880 Gramm. Im Kreißsaal aber wurde plötzlich festgestellt, dass das kleine Herz nicht mehr schlägt. Die Geburt ging schnell, aber die Eltern hielten ein totes Kind im Arm.
Mit so was rechnet doch niemand
„Gott sei Dank konnten wir den ganzen Tag im Kreißsaal bleiben. Die Ärzte und Pfleger im Leo gaben uns alle Zeit, die wir brauchten“, erinnert sich die junge Mutter.
Dennoch schlug alles über dem Paar zusammen, „mit so was rechnet doch niemand“. Und zuhause bei der Oma wartete die zweijährige Lilly auf ihr Schwesterchen. „Schade, dass uns niemand gesagt hat, dass es die „Sternenkinder“, eine Internetseite für Betroffene, gibt, bedauert die Mutter.
Auch von der Christian-Presl-Stiftung, die sich um verwaiste Eltern kümmert, erfahren sie erst später. „Die haben uns sehr geholfen.“ Abends um 21 Uhr kam noch der Heimatpfarrer der jungen Leute ins Krankenhaus, „das tat gut.“
Mit Gipsabdruckset ins Krankenhaus
Lina war ein Sonntagskind, am Montag durfte Veronika nach Hause, aber bis Mittwoch konnten sie ihre kleine Tochter noch täglich besuchen. „Die haben sie in ein Körbchen gelegt, ganz liebevoll“, erzählt die junge Mutter.
Mit einem Gipsabdruckset sind die Eltern gekommen, haben Hände und Füßchen ihrer kleinen Lina festgehalten, „auch wenn die im Krankenhaus komisch geschaut haben, etwas, was man anfassen und mit nach Hause nehmen kann, du hast ja sonst nichts“, erklärt Florian.
Was aber jetzt der Zweijährigen erzählen, die schon eine Woche auf die Mama verzichten musste, weil die im Krankenhaus war, und jetzt ohne die ersehnte Schwester heimkam. „Wir haben versucht, es so kindgerecht wie möglich zu machen und ihr erzählt, Lina sei beim „Christkind“, sagt der Vater. Bis heute redet Lilly (fast fünf) beim Spielen oft mit ihrer Schwester. Damals hat sie lange Zeit im Kindergarten erzählt, dass sie eine Schwester im Himmel hat.
Jeden Tag ans Grab gegangen
Zu dieser Zeit war sich Veronika auch sicher, dass sie kein Kind mehr bekommen wird. „Ich hab Schiss gehabt, dass etwas mit mir nicht stimmt, warum hatte das Kind eine Infektion, warum passiert das?“ Jeden Tag ist die Mutter ans Grab ihrer kleinen Lina gegangen. „Wenn die Kerze auf dem Grab aus war, das war für mich die Hölle“, sagt sie. Das Kind liegt auf dem Grettstädter Friedhof.
Den Grabstein hat Vater Florian selbst gemacht. Darauf steht zu lesen: „Jedes Leben ist ein Geschenk, egal wie kurz, egal wie zerbrechlich. Jedes Leben ist ein Geschenk, das für immer in unseren Herzen weiterleben wird.“
Hilfe von der Psychologin
Die Eltern hatten auch Glück im Unglück, sie bekamen zeitnah einen Termin bei einer Psychologin. „Die hat mir dann gesagt, dass ich nicht verrückt bin, sondern traurig und mich jetzt um mich selbst kümmern muss.“
Inzwischen kennen die beiden auch andere Paare, die dasselbe Schicksal erlitten. „Wenn du dann ein dreiviertel Jahr auf deinen Termin beim Psychologen warten musst, das ist ja furchtbar“, meint Veronika. Was dem Paar geholfen hat ihr Leid zu meistern, war vor allem die Tatsache, dass sie viel und offen darüber geredet haben, miteinander und mit anderen.
Beide kennen andere Paare, die nicht darüber reden können, manche konnten ihr totes Kind noch nicht einmal anschauen oder in die Arme nehmen. „Das stell‘ ich mir furchtbar vor“, meint Veronika. „Das A und O ist, dass die Partnerschaft stimmt“, sagt Florian: „Wenn das nicht passt, dann zerbricht die Beziehung an so was. Geholfen hat auch Lilly, sie war da und hat ihr Recht gefordert.
Ein dreiviertel Jahr nach der Geburt von Lina war Veronika wieder schwanger. „Ich bin ständig zur Frauenärztin gerannt“, erinnert sie sich. Aber die sei ihre Geschichte mitgegangen und hatte Geduld. Als bei der Geburt von Felizian nichts mehr weiterging, ging die junge Mutter durch die Hölle. Aber Felizian ist heute ein munterer Einjähriger. Auch das hat geholfen, nicht, weil er die Erinnerung an die kleine Lina verdrängt hat, sondern weil er wie jedes Baby halt die ganze Energie seiner Mutter gebraucht hat.
Was für das Paar das Schlimmste war, waren die Sprücheklopfer. „Wird schon wieder, ihr seid doch noch jung“, aber das Unerträglichste war: „Wer weiß, für was es gut war.“ Auch wenn Bekannte nach vier Monaten meinten, man müsse wieder zur Tagesordnung übergehen und sich „ein bisschen herrichten“, das geht gar nicht. „Nach vier Monaten ist so ein Erlebnis doch nicht vorüber“, weiß Veronika.
Einige Freundschaften sind zerbrochen
Einige Freundschaften sind daran zerbrochen. Andere Freunde haben sich an Linas Geburtstag bei ihr gemeldet, damit habe ich gar nicht gerechnet, erzählt sie, das habe gut getan. Manchmal haben Kimmels den Eindruck, je näher einem Menschen stehen, umso weniger wollen oder können sie darüber reden. Heute, nach fast drei Jahren, stellen die beiden fest: „Man lernt damit zu leben“, auch wenn man das Kind und die schwere Zeit nie vergessen wird.