Ein halbes Jahrhundert in Geschichten und Liedern: Wenn einer vom „ersten Superstar der deutschen Rockmusik“ (FAZ) zu einem der innovativsten Künstler des Landes wurde, dann hat er viel zu erzählen. Am Freitag, 9. November, ist Achim Reichel um 20 Uhr auf Einladung der Disharmonie mit seinem Programm „Solo mit Euch“ in der Kulturhalle Grafenrheinfeld zu Gast. Es begann in den frühen 60er-Jahren im Hamburger Star Club mit den naiven Popsongs der „Rattles“ („Come on and sing“). Achim Reichel, der vielfach preisgekrönte widerborstige Hitverweigerer, der dennoch etliche Hits gelandet hat, gilt als Urvater der deutschen Rockmusik, er spielte mit Beatles, Rolling Stones, Joe Cocker oder Bee Gees auf Augenhöhe. Er ließ alte Shantys rocken oder hat Goethe, Fontane, Heine & Co. in die Charts gebracht. Im Herbst 2009 spielte Achim Reichel, heute 65 Jahre alt, erstmals das Programm „Solo mit Euch“, begleitet von seinen Weggefährten Berry Sarluis und Pete Sage. Dabei hat er nicht nur Lieder, sondern auch Bilder und Geschichten seines spannenden Lebens im Gepäck.
Achim Reichel: (lacht) Sie gehen aber ran, hey, hoppla. Nein, das war mir natürlich nicht klar. Wir waren grüne Jungs, wir hatten einfach nur eine Leidenschaft für Rock'n'Roll-Musik. Die damals allgegenwärtigen Schlager entsprachen nicht unserem Lebensgefühl. Und dann hatten wir auch noch das seltene Glück, in Hamburg aufzuwachsen mit seiner Weltoffenheit aufgrund des Hafens. Und dann noch St. Pauli: Da gab es eben den Star Club und das Top Ten und den Kaiserkeller. Da gab es die meisten Plattenfirmen. Überall spielten internationale Bands, das war für uns ganz aufregend. Dass daraus eine Lebensperspektive entstehen würde, das habe ich mir nicht im entferntesten erträumt. Selbst als wir mit den „Rattles“ schon erfolgreich waren, haben wir gedacht, wenn du mal 30 wirst, musst du dir einen anständigen Beruf suchen.
Reichel: Naja, zumindest das Land ein wenig. Das denke ich schon. Meine Projekte Anfang der 70er mit A. R. & Machines haben selbst Brian Eno zu Soloalben inspiriert, wie er einmal in einem Interview verlauten ließ. Das erfüllt einen nun auch mit ein wenig Stolz. Aber ich bin zeitlebens um meine Bodenhaftung bemüht gewesen. Ich bin nicht einer, der sich, wenn er Dinge auf die Reihe kriegt, gleich für sonstwen hält. Auch weil mir klar ist, dass ich unglaublich viel Glück gehabt und zur richtigen Zeit die richtigen Leute getroffen habe.
Reichel: Irgendwann bekam das einen schalen Beigeschmack, und man sagte sich, Mensch, du tust so, als ob du ein Ami oder ein Engländer wärst. Dann denkst du schon, was könnte es denn geben, wo du nicht nur irgendwelchen Vorbildern nacheiferst, sondern, wo ein eigenes Ding draus werden könnte. Und das war nicht so einfach, im Deutschland der späten 50er und frühen 60er gab es nichts außer Schlagermusik. Und die war dazu da, Wunden zu lecken und auf heile Welt zu machen. Das war nichts für wilde Jungs aus St. Pauli.
Reichel: Was uns schon auffiel: Die waren besser als manch andere englische Band. Außerdem konnte man mit denen reden. Die waren das erste Mal weg von zu Hause, in einer fremden Stadt in einem fremden Land und fremdelten da so rum in ihren Pausen. Da gab es eine Kneipe, da traf man sich, und für uns war es natürlich toll, jemanden zu haben, mit dem man über Musik reden konnte. Und sie waren dieser Musik eben näher. Die sind ja alle zwei Jahre älter als wir – wir haben denen also Löcher in den Bauch gefragt, und sie genossen den Umstand, dass sie viel wussten und viel zu erzählen hatten. Wir hatten gemeinsame amerikanische Idole, wenn man so will.
Reichel: Ja. Das letzte Mal, das ist jetzt auch schon wieder fünf Jahre her, habe ich Paul McCartney in Hamburg getroffen. Er hatte hier ein großes Konzert in so einer Arena, und da durfte ich dann mal erleben, wie es hinter der Bühne von einem Weltstar aussieht, wo Geld überhaupt keine Rolle spielt. Der hatte da Räume einrichten und Wände verkleiden lassen, das war schier unglaublich. Da kommen Interieur-Fachleute, bauen einen Wohnbereich rein und machen er dir gemütlich, wo sonst kahle Betonwände sind. Aber man plaudert dann eh nur über alte Zeiten: Was macht die Barfrau X, und wie geht's der Baufrau Y? Und lebt denn der noch, und was ist aus dem geworden?
Reichel: Interessant war's natürlich schon, denn wir haben die Beatles und die Rolling Stones kennengelernt, bevor der große Weltruhm einsetzte – als ganz normale Jungs. Als man noch gar nicht daran dachte, was für ein Riesending Beatmusik einmal werden würde, dass die Beatles mal die ersten sieben Chartpositionen in den USA belegen würden. Und insofern hat man später auch gemerkt, was so ein Erfolg und so ein Business mit den Menschen macht. Dass die Sklaven des Protokolls geworden sind und durch die Welt hechelten und aufpassen mussten, dass sie nicht durchdrehen.
Reichel: Wir hatten damals das Angebot von DECCA in London, kommt hier rüber, wir mieten euch ein Haus, da könnt ihr alle wohnen, und dann wird eure Karriere von England aus betrieben. Aber das wollten wir nicht. Heute bin ich gar nicht unglücklich darüber, weil mir irgendwann klar wurde, als jemand, der im internationalen Geschäft bestenfalls ein Paradiesvogel oder eine Ausnahmeerscheinung wäre, der nur ein unbeholfenes Englisch singt, mit dem lässt sich nur schwer eine Weltkarriere aufbauen. Außerdem wurde mir klar, dass im eigenen Land ein Job zu tun war. Das kulturelle Selbstbewusstsein der Deutschen war ja im Eimer. Da war kein Platz für kritische Töne.
Reichel: In England gab es schon in den späten 60er-Jahren die zeitgemäße Aufbereitung von Folksongs – Steeleye Span, Fairport Convention –, die spielten Volkslieder, als ob das Rocksongs wären. Das war ein Riesenunterschied zur Sichtweise in Deutschland. Und hier kam irgendwann dazu, dass man anfing, das Radio zu formatieren. Da galten plötzlich nur noch gesicherte Erfolgskriterien: Ist das denn auch ein Hit? Wenn das kein Hit ist, dann können wir das auch nicht spielen, wir sind doch ein Hitradio. Da hört man tatsächlich: Mach einen Hit, egal wo, dann spielen wir dich. Das sind industriell geführte Firmen, die haben kein kulturelles Bewusstsein. Das betrachten die gar nicht als ihren Job. Interessantheit kannst du dir da gleich abschminken.
Reichel: Irgendwann war ich so leichtsinnig und risikobereit zu sagen, es ist mir egal, was man da draußen denkt, wie die Dinge laufen müssten, ich mach jetzt einfach das, was mich am meisten interessiert, was mir auf der Seele brennt. Dann bist du möglicherweise am ehrlichsten mit dir selber und vielleicht auch am besten. Man fragt sich aber schon: Bist du sicher, dass du damit keine Bauchlandung machst? Es hat oft geklappt, aber keinesfalls immer. Aber oft genug. Ich hatte einfach eine Art Sendungsbewusstsein, und wenn man so viele Ideen im Kopf hat, dann will man die auch loswerden. Ich höre oft, das muss man sich auch leisten können. Das konnte ich mir aber auch nur deswegen leisten, weil ich nicht der Meinung war, ich muss mir von meinem ersten Hit gleich einen Rolls Royce kaufen. Irgendwann habe ich gemerkt: Ein, zwei Hits im Jahr reichen, dann bleiben die Plattenfirmen einem gewogen.
Reichel: Ach, bei diesem Thema beschleicht einen schon eine leichte Beklemmung. Nun ist gerade wieder ein guter Freund gestorben, Manne Praeker, der Bassmann von „Spliff“, früher Produzent von Nina Hagen. Das häuft sich in letzter Zeit. Ich klopfe dann immer auf Holz und denke, mein Gott, Alter, du hast auch nicht immer ganz solide gelebt, und dass es dir richtig gut geht, ist ein Geschenk des Himmels. Aber ich fange mehr und mehr an, mich allmählich zurückzunehmen. Der Erfolg der Musik- und Geschichtenerzähler-Tour sagt mir auch, ich sollte das alles einmal aufschreiben, und zwar etwas ausführlicher, in einem Buch. Auf der Bühne kann man ja nur die Rosinen rauspicken. Aber dann heißt es gleich wieder von Ihrer Zunft, so eine Biografie muss zum 70. rauskommen – aber ich muss nicht mehr diese etablierten Mechanismen mitmachen, das geht auch so. Einige Ideen will ich schon noch realisieren, aber verrückt machen lasse ich mich nicht.
Reichel: Die wenigen Plattenfirmen, die wir noch haben, stehen vor einem unendlich geschrumpften Markt. Von meinem „Aloha Heya He“ musste ich noch 250 000 Alben verkaufen, um eine Goldene Schallplatte zu bekommen, heute reichen 100 000. Die Musik entkörperlicht sich immer mehr. Der Konsument denkt, Musik muss man nicht kaufen, man muss nur wissen, wo man im Internet klicken muss. Das entzieht der Zunft die Möglichkeit, daraus eine Lebensperspektive zu machen. Es gibt zwar jungen Künstlern andere Freiheiten, wenn das Radio sie nicht spielt. Die Kehrseite ist aber die Gefahr, dass sie in den endlosen Weiten des Internet verloren gehen. Und die wahren Herren des Internet sind nunmal leider Google und Youtube und Facebook und Amazon. Das sind alles amerikanische Unternehmen, und der Cowboy schießt erstmal, bevor er fragt, was ist hier Recht.
ReicheL: Wenn mein „Aloha Heya He“ bei Youtube fast vier Millionen Klicks auf sich vereinigt, und ich sehe, dass daneben immer Werbung läuft und die mir nichts aber auch gar nichts bezahlen wollen und sich auch der GEMA gegenüber weigern, überhaupt ihre Einkünfte offenzulegen, dann könnte man denken, das ist doch Krieg in einer Parallelwelt. Da gibt es überhaupt noch keine Regeln. Und der einfache Konsument denkt dann, die wollen uns das wegnehmen, jetzt soll es plötzlich was kosten. Ich bin gar nicht der Meinung, dass es was kosten soll. Die sollen uns nur an ihrer verdammten Werbung beteiligen. Die Leute kucken da ja nicht wegen der Werbung rein, sondern, weil sie da geile Musik hören können.
Achim Reichel: Storyteller-Konzert „Solo mit Euch – mein Leben, meine Musik“. Freitag, 9. November, 20 Uhr, Kulturhalle Grafenrheinfeld. Karten bei der Disharmonie: Tel. (0 97 21) 2 88 95.