„Einen überwältigenden Zuneigungsbeweis für Rückert“ nannte Rudolf Kreutner den großen Besucherandrang bei seinem Vortrag mit Lesung „Mein Übel schläft, ich aber schlafe nicht…“ zum Auftakt des Rückert-Gedenkjahres. Die lange Warteschlange an der Kasse der Kunsthalle bescherte dem Beginn reichlich Verspätung – ein Umstand, den sich ein merklich gerührter Kreutner nach einem Blick auf die Uhr zupass machte, indem er just in der Todesminute des Dichters, um 10.45 Uhr, mit seinem Vortrag begann.
Zwei Schwerpunkte hatte sich der Geschäftsführer der Rückertgesellschaft und Projektleiter des Rückert-Jahrs gesetzt: Zum einen las er aus Augenzeugenberichten von Menschen, die die letzten Lebensmonate des Gelehrten in enger räumlicher Nähe und emotionaler Verbindung mit diesem verbrachten. Viele Briefe der Schwiegertochter Alma dienten hierfür als Quelle. Zum anderen zog Rudolf Kreutner eigene Betrachtungen des seit 1865 an Darmkrebs erkrankten Rückert zu seinem Verglimmen, zu Sterben und Tod heran.
Alma Rückert ermöglicht mit ihren Briefen einen tiefen Blick ins keineswegs konfliktfreie Rückert'sche Familienleben. Abwechselnd mit Rückerts Tochter Marie liest sie dem Schwerkranken vor, berichtet von verabreichten Arzneien, von den Mahlzeiten und Tagesabläufen. Rückert selbst leidet sehr unter dem Verlauf seiner Krankheit, spricht von Ekel und Scham. Aber er macht sich auch über die vergeblichen medizinischen Therapieversuche lustig.
Anfang 1866 stehen Schwiegertochter und Tochter unter größter psychischer Belastung und Spannung. Der Zustand des Orientalisten verschlechtert sich, eine Operationswunde bricht wieder auf, die Kräfte schwinden. Dennoch hat Rückert teil am Leben der Familie, beobachtet sie und sorgt sich. Letzte Gedichte entstehen: Eines davon ist an seine geliebte Frau Luise gerichtet, die bereits vor Jahren verstorben ist. Im Grab sieht er sie „links gebettet“, sich selbst „rechts an Dich gekettet“.
In der Todesstunde ist fast die gesamte Familie um Friedrich Rückert versammelt. Tage später wird der Leichnam, wie es damals üblich war, im Hause aufgebahrt und mit Blumen und Kränzen geschmückt. Aufs Grab wird unter anderem ein persischer Rosenstock gepflanzt, denn, so der Dichterwunsch: „Pflanzet Blumen auf mein Grab“.
Das ländliche Leben zog den Gelehrten in einer Zeit an, in der sich die agrarische und aristokratisch geprägte Gesellschaft in eine industrialisierte Massengesellschaft verwandelte. Von Berlin ins beschauliche Neuses gezogen, liebte es der bekennende „Kaffeeist“, sich nach dem Mittagsmahl mit ebendiesem Getränk in einen anderen Raum zurückzuziehen. Für ihn galt diese räumliche Veränderung bereits als kleine Reise, denn allein der geistige Raum zählte. Sein Motto für die Zurückgezogenheit: „Zieh Dich ein Stück von der Welt zurück“ - aber nicht zu viel, denn in der Mitte liege das Glück.
Mit dem Alter hadert Rückert ein wenig, spricht ihm Zwacken, Packen und Husten zu. Von seinen 77 Lebensjahren wünscht sich der inzwischen Zahnlose dennoch keines zurück. Zu den Vorteilen seiner Krankheit äußert er sich ironisch, man könne als Kranker unwillkommene Besucher problemlos abweisen und müsse sich nicht einmal verabschieden. Sein Leiden beklagt er still, andere sollen ihn nicht dabei hören, und er will auch nicht zur Last fallen.
Rückert glaubt als protestantischer Christ fest an die Auferstehung des Leibes und an eine Wiedervereinigung mit seiner Familie nach dem Tode. Daher hat der Tod für ihn keinen Schrecken und er nähert sich diesem mit Souveränität: „So mög' ich froh zu Grabe gehn/Und fröhlich auferstehn.“
In den letzten Lebenstagen quält ihn vor allem die Schlaflosigkeit. Dann betrachtet er dichtend seine Situation: Eine schlaflose Nacht habe ihm ein paar Verse gebracht, doch leider keine Träume, nur fade Reime.
Rudolf Kreutner gelang mit seinem prägnanten Vortrag ein sehr persönliches und berührendes Bild des Dichters, Sprachgelehrten und Übersetzers. Dafür erhielt er starken und lang anhaltenden Applaus.