In dem Artikel „Der schlafende Penner weist den Weg“ wird die Projektreihe und die Idee rund um die Installation „Ich bin ich! – Bin ich ICH? Welche Rolle(n) spiele ich?“ in der Stadtpfarrkirche Gerolzhofen beschrieben.
Nachfolgend möchte ich meinen eigenen Erfahrungen diesbezüglich Ausdruck verleihen.
Die Installation zeichnet sich durch eine Kombination verschiedener Versatzstücke aus: Das sind Schatullen mit Bibelversen, eine Schatztruhe gefüllt mit Überraschung, Stationen mit der Frage „Wer ist Gott?“, vor allem aber die Schaufensterpuppen als der große Hingucker. Jede von ihnen hat einen Text, der die die Rolle der Schaufensterpuppe erzählt. Diese Texte waren wie spannende Schlaglichter, die meiner Lebenswelt nicht entsprachen: die Lebenswelt der Mutter, die ich noch nie geworden bin, die des Priesters, die des Flüchtlings.
Gerade weil ich vieles selbst nicht erlebt habe, war es spannend. Manches erschien mir etwas zu plakativ wie zum Beispiel der Jugendliche.
Eine Sache, die all den dargestellten Rollen gemein war, war die Ambivalenz ihrer Situation. Egal was der bzw. die Einzelne durchlebte, er und sie empfanden in allem etwas Positives und Negatives. Das schließt den Lebemann genauso ein wie den Familienvater und die Todkranke. Lediglich der Penner fällt da etwas aus dem Rahmen.
Auch wenn das vermutlich eine ungeplante Analogie zur Anordnung der Figuren ist: Er ist der einzige, der außerhalb des Kirchengebäudes steht und somit neben den fehlenden Positiven auch räumlich von den anderen ausgeschlossen ist.
Als ich all diesen Rollen und Geschichten immer weiter zuhörte, fragte ich mich, warum sie denn so besorgt waren? Sie hatten alle Beachtliches erreicht, sie leisten Beträchtliches: Kampf gegen die lebensbedrohliche Krankheit, Schulstress bewältigen, Kinder groß ziehen oder schon großgezogen haben, Deutsch lernen. Wenn sie das alles geschafft haben und schaffen, wovor hatten sie dann Angst? Warum schwang bei so viel positiver Leistung und Kampfeswillen so viel Negatives mit?
Hier traf mich die Frage selbst. Bis dato habe ich einen Bilderbuchlebenslauf: Schulabschluss, FSJ, Ausbildung, Arbeitsplatz. Geradlinig und ohne Lücken. Vor was habe ich eigentlich Angst? Wenn man Leute bittet, sich selbst zu beschreiben, erzählen sie häufig zuerst, was sie nicht können. Sie können keinen Handstand, kein Motorboot steuern und Tango tanzen können sie meist auch nicht.
Wer genauer nachfragt, erfährt dann, dass sie sehr gut zuhören, kochen und putzen können. Das ist im Alltag deutlich wichtiger. Und im Falle einer Krise hilft es dem einzelnen deutlich weiter als den Salto Mortale springen zu können.
Als ich den Steigerwalddom verließ, hat sich für mich wieder eines bewahrheitet: Die Menschheit hat mehr Angst vor ihrem Licht als vor ihrem Schatten. Wenn wir wirklich wüssten, was wir können, würden wir nicht mehr fürchten, was wir nicht können.
Christine Fritz,
97447 Gerolzhofen
Ich bin ja seit Jahren treuer Mainpost-Leser, dieser Artikel bzw. Text von Frau Fritz
ist absolut PERFEKT. Die Menschen wach rütteln, das hat sie mit Sicherheit geschafft. Ich würde mir noch viel mehr solcher Artikel in der Mainpost wünschen.
Dann würde die Welt, die zu gestalten wir selbst in Händen halten, sich auch endlich wieder zum Besseren wenden.