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SCHWEINFURT
Leopoldina: Der Kreis der klugen Köpfe
Goethe, Darwin, Einstein – sie alle waren Mitglieder der in Schweinfurt gegründeten Akademie
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 25.11.2014 14:32 Uhr

Goethe war Mitglied, Charles Darwin auch, Marie Curie, Albert Einstein, Otto Hahn, Werner Heisenberg, Gustav Hertz oder Carl Friedrich von Weizsäcker sowieso – die Leopoldina erhebt seit über 350 Jahren den Anspruch, die klügsten Köpfe der Wissenschaft in ihren Reihen zu vereinigen. Derzeit sind das genau 1564 in über 30 Ländern, unter ihnen der aktuelle Nobelpreisträger im Fach Chemie, Stefan Hell, oder der Schweinfurter Stadtarchivar Uwe Müller, der im Jahr 2002 als Wissenschaftshistoriker in Klasse IV gewählt wurde, in der die Geistes-, Sozial- und Verhaltenswissenschaften vereint sind. In den Klassen I bis III sind Mathematik, Physik, Chemie und Geowissenschaften, Biowissenschaften und Medizin untergebracht. Mit zuletzt Stefan Hell sind 169 Nobelpreisträger aus den Reihen der Akademie hervorgegangen.

In die Leopoldina wird man gewählt. Und auch das nur auf Vorschlag eines Mitglieds (obwohl es immer wieder Aspiranten geben soll, die sich selbst vorschlagen – freilich vergeblich). Die Kandidatur muss drei Lesungen überstehen, in der Fachsektion, in der Klasse und schließlich im Präsidium.

Wer heute gewählt wird, der nimmt die Wahl auch an. Mitglied der Leopoldina zu sein, ist ein Ritterschlag für jeden Wissenschaftler. Das war nicht immer so – die Gründerväter hatten ziemlich extreme Vorstellungen, was ein Mitglied zu leisten habe, schließlich lautet das Motto bis heute „Nunquam otiosus“, niemals müßig: Jeder sollte sich verpflichten, einmal pro Halbjahr eine umfangreiche Monografie über ein Objekt aus dem Mineralien-, Pflanzen- oder Tierreich zu veröffentlichen. Das erwies sich als viel zu ambitioniert, viele Kandidaten winkten ab, die erste Monografie erschien tatsächlich erst neun Jahre nach Gründung der Akademie.

Den Anfang nahm alles am 1. Januar 1652 in Schweinfurt, als vier Ärzte die Academia Naturae Curiosorum gründeten – die Akademie der auf die Natur Neugierigen. Der Stadtphysikus Johann Laurentius Bausch und seine drei Mitgründer Johann Michael Fehr, Georg Balthasar Metzger und Georg Balthasar Wohlfahrt beschlossen, ein Netzwerk der Neugierigen aufzubauen: Per Korrespondenz wollten sie mit den führenden Forschern Europas das gesamte verfügbare Wissen über die Natur der Welt austauschen und durch eigene Forschung neues hinzufügen – „zur Ehre Gottes und zum Wohle der Menschen“.

Die Idee war nicht neu, vermutlich hatte Metzger sie von einem Studienaufenthalt in Italien mitgebracht. Aber sie erwies sich als die dauerhafteste: Heute ist die Leopoldina die älteste, ununterbrochen existierende naturwissenschaftlich-medizinische Akademie der Welt.

Ab 1677 gewährte Kaiser Leopold I., dem die Schweinfurter Forscher als Bürger einer Freien Reichsstadt direkt unterstanden, in vier Privilegien Schutz vor Zensur und unerlaubtem Nachdruck. Und wurde damit zum Namenspatron der Akademie. Wichtiger als der kaiserliche Schutz vor unerlaubtem Nachdruck (der tatsächlich niemanden beeindruckte) war der vor Zensur: Wissenschaftliche Erkenntnis und kirchliche Lehrmeinung mussten vor allem in der katholischen Welt zwangsläufig in Konflikt miteinander geraten.

Die Gründer hatten die Privilegierung mit einigem Sinn für Selbstmarketing gut vorbereitet: Die ersten beiden Ausgaben der seit 1670 erscheinenden Akademiezeitschrift „Ephemeriden“ widmeten sie Leopold, der denn auch huldvoll die Erlaubnis gab, darin fünf Kuriositäten aus seiner Schatzkammer vorzustellen.

In den ersten 220 Jahren war die Leopoldina eine Wanderakademie: Sitz war immer der Wohnsitz des jeweiligen Präsidenten. So verließ die Akademie Schweinfurt bereits 1686 in Richtung Nürnberg, weitere Stationen waren Erfurt, Erlangen, Bonn, Breslau, Jena oder Dresden. Seit 1878 ist sie dauerhaft in Halle, heute Sachsen-Anhalt, ansässig. Die Verbindungen zur Gründerstadt sind aber nie abgerissen, obwohl erst jüngst eine größere Delegation des Schweinfurter Stadtrats erstmals zu Besuch in Halle war.

Vor allem während der deutschen Teilung haben die Kontakte wieder Aufschwung genommen. Die Präsidenten Kurt Mothes (1954-1974) und Heinz Bethge (1974-1990) widersetzten sich allen Versuchen der SED, die Leopoldina unter ihre Kontrolle zu bringen.

Das war in der NS-Zeit nicht gelungen: Mitgliedervorschläge mussten den Machthabern vorgelegt werden. „Tiefpunkt in der Geschichte der vormals unabhängigen Akademie ist die Streichung vieler jüdischer Akademiemitglieder aus der Mitgliederliste“, heißt es dazu in der Festschrift „Leopoldina - Nationale Akademie der Wissenschaften“.

In der DDR wurde zwar mit Richtmikrofonen jede Präsidiumssitzung abgehört, die Akademie ließ sich aber nie vorschreiben, wen sie in ihre Reihen wählte. Der SED-Staat wiederum brauchte die Leopoldina als Vorzeigeobjekt, und so gelang es, die Kontakte zwischen Ost und West permanent aufrechtzuerhalten. Dabei spielte auch der Carus-Preis eine wichtige Rolle, den die Stadt Schweinfurt auf Vorschlag der Leopoldina seit 1962 vergibt. Er war eine direkte Antwort auf den Mauerbau 1961, der die Reisefreiheit eben auch der Wissenschaftler erschwerte.

Es waren Zeiten, in denen jede Geste politisch war. In bewusster Provokation der Partei ließ sich Kurt Mothes in Talar und mit Präsidentenkette porträtieren – verhassten Symbolen elitärer Bürgerlichkeit, die in der DDR gerade per Hochschulreform abgeschafft worden waren. Die historische Kette war irgendwann verloren gegangen, Mothes ließ eine neue anfertigen. Das Gold für die Kette spendete der Freundeskreis der Leopoldina im Westen, das Akademiesiegel die Stadt Schweinfurt.

Seit 2008 ist die Leopoldina Nationale Akademie der Wissenschaften der Bundesrepublik Deutschland – was vor allem bedeutet, dass sie Politik und Gesellschaft bei allen Entscheidungsprozessen berät, die wissenschaftliche Aspekte berühren. Die Mitglieder verfassen Gutachten zu Themen wie Stammzellen, Infektionskrankheiten, Energiegewinnung oder Demografie. Die absolute Unabhängigkeit von Interessengruppen und weltanschaulich oder wirtschaftlich vorgegebenen Meinungen ist bis heute oberstes Gebot: „Wir wollen für jede Fragestellung die besten Leute zusammenbekommen“, sagt Vizepräsident Gunnar Berg, „das müssen nicht unbedingt Mitglieder sein.“

Ständig bearbeiten Wissenschaftler ehrenamtlich 15 bis 17 Projekte gleichzeitig. „Ar-beitsgruppen arbeiten ergebnisoffen. Handlungsoptionen und Empfehlungen sind Ergebnisse eines offenen Diskussionsprozesses“, heißt es in den Leitlinien zur Politikberatung. Mit der Erhebung zur Nationalakademie wuchs die Zahl der Angestellten von 20 auf 100 an. Man suchte dringend mehr Platz und wurde auf dem Jägerberg fündig: Hier stand ein riesiger, heruntergekommener Prachtbau aus dem 19. Jahrhundert leer. Der ehemalige Sitz der bedeutenden Freimaurerloge „Zu den drei Degen“ war von den Nazis enteignet und radikal umgestaltet worden. Nach dem Krieg gelangte er in die Hände der Sowjets und dann der Universität, die beide nichts in den Erhalt investierten.

Nach der Wende bekam die Weltkugelstiftung, Rechtsnachfolgerin der Loge, die vor ihrer Auflösung 1935 über 440 Mitglieder gezählt hatte, das Gebäude zurück und verkaufte es an die Leopoldina. Die renovierte die Ruine in nur 16 Monaten für gerade mal 15,7 Millionen Euro nach modernen denkmalpflegerischen Grundsätzen. Hier gibt es nun Büros, Vortrags- und Veranstaltungssäle, die jeweils im Zustand ihrer letzten Gestaltung restauriert wurden. So ist der Palast auf dem Jägerberg von Halle mit Räumen im neoklassizistischen Prunk des 19. Jahrhunderts, im stämmigen Selbstbewusstsein der 1930er-Jahre oder im eher herben Charme der DDR auch eine Art Zeitkapsel deutscher Baustile.

Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften

Am 1. Januar 1652 setzten sich vier Schweinfurter Ärzte zusammen und gründeten eine Vereinigung, deren Ziel es sein sollte, alles verfügbare Wissen zusammenzutragen und in einer riesigen Enzyklopädie zu bündeln. Johann Laurentius Bausch, Johann Michael Fehr, Georg Balthasar Metzger und Georg Balthasar Wohlfahrt hatten erkannt, dass es unendlich viel über die Natur zu wissen, vor allem aber herauszufinden gibt. Sie korrespondierten mit den führenden Wissenschaftlern in ganz Europa. Ab 1677 gewährte Kaiser Leopold I., dem die Forscher als Bürger einer Freien Reichsstadt direkt unterstanden, in insgesamt vier Privilegien Schutz vor Zensur und unerlaubtem Nachdruck. Er wurde zum Namenspatron der fortan Leopoldina genannten Akademie, seit 2008 Nationale Akademie der Wissenschaften Deutschlands. In den ersten 220 Jahren hatte die Akademie ihren Sitz immer da, wo der Präsident wohnte – sie residierte unter anderem in Augsburg, Nürnberg, Erfurt, Erlangen, Bonn, Breslau, Jena oder Dresden. Seit 1878 ist der Sitz in Halle. Die Leopoldina ist die heute älteste, ununterbrochen existierende naturwissenschaftlich-medizinische Akademie der Welt. XXVI. Präsident der Leopoldina ist seit 2010 der Mikrobiologe Jörg Hacker, der bis 2008 an der Universität Würzburg lehrte. Sein Vorgänger war der Würzburger Mikrobiologe Volker ter Meulen. Text: maw

Blick in den Vortragssaal: Auf Anweisung der Denkmalpflege wurden die Räume im Stile ihrer letzten Gestaltung restauriert – hier also im Stile der 1930er-Jahre.
| Blick in den Vortragssaal: Auf Anweisung der Denkmalpflege wurden die Räume im Stile ihrer letzten Gestaltung restauriert – hier also im Stile der 1930er-Jahre.
Präsident Kurt Mothes: Die Amtskette war eine bewusste Provokation der SED.
| Präsident Kurt Mothes: Die Amtskette war eine bewusste Provokation der SED.
 
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