Kevin schlägt andere Kinder, Sebastian zerfetzt regelmäßig Arbeitsblätter. Jessica ritzt sich mit der Schere. Die Namen hat Prof. Dr. Thomas Müller zufällig gewählt, die Zunahme von Verhaltensstörungen bei Schulkindern ist für ihn kein statistischer Zufall mehr. Lehrkräfte fühlen sich oft alleingelassen, wenn es um "Jugendliche mit emotional-sozialem Förderbedarf" geht.
"Jenseits der Ohnmacht" nannte sich der gut besuchte Inklusionstag der Schulamtsbezirke Schweinfurt, Haßberge, Bad Kissingen und Rhön-Grabfeld. Eingeladen hatte die Auen-Mittelschule. Im Impulsvortrag von Thomas Müller ging es um das Ausbrechen aus einer sich selbst verstärkenden Ohnmachtsspirale, von Lehrern wie Schülern gleichermaßen.
Vor-die-Tür-stellen von Unruhestiftern ist keine Lösung
Fest steht: Das klassische Vor-die-Tür-stellen von Unruhestiftern ist nicht die Lösung. Müller lehrt Sonderpädagogik an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. In zwei Workshop-Runden ging es unter anderem um "Supervision", sprich das Hinzuziehen der Expertise von Außenstehenden, im täglichen Klassenkampf. Ebenso um gewaltfreie Kommunikation im Stil des US-Psychologen Marshall B. Rosenberg, um Classroom Management, das soziale und emotionale Bedürfnisse der Kinder berücksichtigt, oder das "Churer Modell". Gemeint ist die buchstäbliche Umstellung eines Klassenzimmers hin zur individuellen Lernlandschaft.
"Perfekt" nennt sich der Song von Mark Forster, der gleich zu Beginn zu hören war – dank Förderlehrer Christian Adler und dessen Schülerband. Niemand ist perfekt: Im Text wurden augenzwinkernd "SPD" wie "FCB" erwähnt. Schulleiter Marco Forner begrüßte in einer gefüllten Turnhalle. Bürgermeisterin Sorya Lippert vertrat die Stadt, als gelernte Lehrerin. Die Grenzen zwischen Inklusion und Integration seien fließend, hat die gebürtige Pakistanerin festgestellt. Unterschiede ließen sich als Chance begreifen, so Lippert. Eltern mit Migrationshintergrund dürften die Schulziele allerdings nicht als Konkurrenz zu den eigenen Werten sehen.
SPD-Landrat Florian Töpper nahm ironisch eine Stelle aus dem Lied auf, dessen Held "wie die SPD" nur aus Schmerz lernt. Tatsächlich gebe es derzeit große Herausforderungen in der Gesellschaft, mit gefährlichen "Fliehkräften". Töpper verwies auf aktive Jugendsozialarbeit und Kreisprojekte, ebenso auf gute Zusammenarbeit mit den Schulämtern.
Psychische Störungen nehmen bei Kindern und Jugendlichen zu
Psychische Störungen nähmen bei Kindern und Jugendlichen zu, stellte dann Thomas Müller fest, die Coronakrise habe diesen Trend noch einmal enorm verstärkt. Laut Report der DAK-Versicherung ist die Zahl der stationär behandelten Angststörungen in den Jahren 2018 bis 2022 bei jugendlichen Mädchen um 35 Prozent gestiegen, die der Essstörungen um 52 Prozent. Bei den Depressionen beträgt der Anstieg hier 24 Prozent, wobei Mädchen fünfmal öfter behandelt werden als Jungen.
Insgesamt ein Fünftel aller Kinder zeigt laut Studien psychische Auffälligkeiten. Suizid gilt in jungen Jahren als fünfthäufigste Todesursache, 48 Kinder wurden 2022 bundesweit jeden Tag Opfer sexueller Gewalt. Und: "Soziale Benachteiligung und Armut erzeugen Stress."
Viele Kinder erlebten im Elternhaus "emotionale Misshandlung", mit gezielter Entwertung. Im Schulleben entstehe daraus der Wunsch nach Bestätigung durch Erwachsene, denen aber gleichzeitig kein Vertrauen geschenkt werde. Der Sonderpädagoge spricht vom alltäglichen "Eid des Sysiphus": Mit Strafe käme ein Pädagoge ebenso wenig aus der wechselseitigen Ohnmachtsspirale wie durch Verharmlosung einer (sich selbst und andere gefährdenden) "Hochrisikoklientel" als "verhaltensoriginell".
Lehrer seien keine Psychotherapeuten, betont Müller, es gebe Bedarf an Spezialangeboten und Förderschulplätzen – die Inklusion an Regelschulen sei kein Selbstweck. "Neue Autorität" ist ein Zauberwort: Vertrauensbildung, Wertschätzung und Geduld sollen helfen, aus der Sisyphusarbeit eines Lehrers auszubrechen.