Für einen Moment schien Heino Naujoks etwas bedrückt. Da wird seiner alten GRUPPE WIR die erste umfangreiche Ausstellung nach vielen Jahren gewidmet, die vielleicht auch endlich den Münchnern die Augen über deren Bedeutung öffnet – und er ist der einzige, der das noch erlebt. Hans Matthäus Bachmayer und Florian Köhler sind 2013 gestorben, Helmut Rieger 2014 und Reinhold Heller schon vor mehr als 20 Jahren. Naujoks ist jetzt 78 und er wollte seine Genugtuung nicht verbergen, dass jetzt zwei Museen und vier Kunsthistoriker das Werk von WIR für genauso bedeutsam halten wie das der Kollegen von SPUR, der anderen Münchner Künstlergruppe dieser Zeit.
Bis Mitte September ist die vom Museum Lothar Fischer in Neumarkt konzipierte und dort seit Januar gezeigte Ausstellung im Tiefparterre der Kunsthalle zu sehen. Die 60 Werke aus den Jahren 1959 bis 65 – solange existierte WIR – führen zurück in eine schwierige, aber auch aufregende Zeit für die jungen Künstler. Köhler, Naujoks und Rieger trafen sich in der Malereiklasse von Erich Glette, dem einzigen Professor an der Münchner Akademie, der keinen rückwärtsgewandten Stil pflegte, sondern seinen Studenten Freiheit ließ. 1959 gründeten die drei ihre „eigene Akademie“, der sie nach der ersten Ausstellung den Namen „WIR“ gaben. 1961 kam der Maler Heller dazu, ein Jahr später der Bildhauer Bachmayer.
Eines war den fünf Künstlern klar: Sie wollten keinesfalls abstrakt malen, das Informel lehnten sie mit Vehemenz ab. Auf der Suche nach einer eigenen Sprache orientierten sie sich erst einmal an den Alten Meistern. Sie besuchten Barockkirchen und Klöster und studierten in der Alten Pinakothek Rubens, El Greco und Delacroix. Und hier setzt die Ausstellung ein. Einträchtig hängen zwei etwa gleich große Gemälde von Köhler und Naujoks nebeneinander, denen das gleiche Motiv zugrunde liegt: „Araber wird von einem Löwen angegriffen“ von Eugene Delacroix. Naujoks hatte damals nur eine kleine Schwarz-Weiß-Abbildung des Gemäldes gesehen und interpretierte es auf seine Weise. Das verblüffende: weder er noch Köhler wussten offenbar vom Bild des anderen. Naujoks sah die Köhler-Version erstmals bei der Ausstellung in Neumarkt vor wenigen Monaten.
Die nächsten Bilder erzählen davon, wie die Gruppe ihren ersten gemeinsamen Stil findet. Das faszinierendste Werk dieser Phase ist Naujoks „Höllensturz“, eine höchst dramatische, unglaublich dichte Szene ineinander verkeilter Körper. In diesem Gemälde steckt alles, was den Maler damals beschäftigt: Die Dynamik der barocken Formensprache, das historische Thema, seine Nähe zu Max Beckmann – und die Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Auch Köhler malte 1961 einen „Höllensturz“, der ebenfalls in der Ausstellung zu sehen ist, aber seiner ist weit weniger dramatisch. Ab diesem Zeitpunkt reaktivieren die WIR-Leute die Farbe – als Kontrapunkt zum eher farblosen Informel. Sie selbst wollten die Figur nie verlassen. In manchen wilden Farbfeldern muss man sie freilich suchen und auch in den vier kleinen Gipsskulpturen von Hans M. Bachmayer ist sie nur zu erahnen. Deutlich ist in den Arbeiten dieser Zeit der Einfluss des Abstrakten Expressionismus.
Der nächste Umbruch kam 1963. Die Künstler verließen den Schutzraum der Akademie, suchten neue Wege. Gegenstände kamen mit ins Bild: bei Heller ein Spiegel, Naujoks collagierte Zeitungen ein. Die Bilder wurden expressiver. Dann kam das Jahr 1964 und mit der documenta „die Heiligsprechung der Pop Art“, wie Naujoks es ausdrückt. Auch WIR verschloss sich diesen Einflüssen nicht.
Die Gemälde wurden flächiger, Raster tauchten auf, nicht nur Bachmayer, auch die Maler arbeiteten in den Farben der Pop Art: Rot, Gelb, Blau, Grün, Schwarz und Weiß. Bei Florian Köhler wurde der „Supermann“ zum großen Thema. In einigen Bildern ist die amerikanische Comicfigur im typischen blau-roten Kostüm als direktes Zitat zu sehen, in anderen zeigt ihn Köhler als dunkle, unheilvolle Figur.
In diesem letzten Teil der Ausstellung kann der Besucher gar nicht anders, als die skurrilen Figuren von Bachmayer zu bewundern. Aus Holzabfällen, Puppenarmen und Stoff formte der Bildhauer wundersame Gnome und Vogeldamen, Särge und Bühnen für seine Gestalten, deren poppige Farbigkeit nicht über ihr grausames Schicksal hinwegtäuscht. Ihrer Gliedmaßen beraubt, stürzen sie ab. Da scheint sich der Kreis zu Naujoks Höllensturz zu schließen.
Die höchst sehenswerte Ausstellung endet 1965, dem Jahr, in dem WIR sich auflöste, um sich mit SPUR zur Gruppe GEFLECHT zusammenzuschließen. „Aber das ist eine ganz andere, sehr komplizierte Geschichte, die hier nicht erzählt werden soll“, sagte Heino Naujoks zum Schluss.
Begleitprogramm zu WIR
Die Ausstellung Gruppe WIR 1959–1965 ist bis 13. September in der Kunsthalle zu sehen. Der umfangreiche Katalog enthält neben zahlreichen Abbildungen Texte von den Kuratoren Pia Dornacher, Selima Niggl (Lothar-Fischer-Museum), Erich Schneider und Andrea Brandl (Kunsthalle).
Der MuseumsSevice MuSe bietet Führungen durch die Ausstellung und einen Workshop für Kinder an (siehe Programm Seite 22).
Der Film von WIR „Über den barocken Raum“ wird am 23. Juli, 19 Uhr gezeigt. Er ist nicht vertont. Der Pianist Dimitri Rodionov begleitet den Film mit der fünften Klaviersonate von Alexander Skrjabin.