
"Mir ist es auch schon einmal passiert", sagt Landwirt Simon Hotz, der den Lindelachshof östlich von Gerolzhofen bewirtschaftet. Was er meint: Der junge Landwirt hat beim Abmähen eines Ackers ein dort versteckt liegendes Kitz mit dem Mähwerk erwischt und schwer verletzt. Ein vor Schmerz schreiendes Kitz, "das braucht man wirklich nicht", sagt Hotz. Auch Jäger Martin Rügamer kennt die Situation, wenn er von einem Landwirt zu Hilfe gerufen wird, um einem verstümmelten Kitz mit der Kurzwaffe den Fangschuss zu geben: "Das geht einem schon arg zu Herzen", meint der Hegeringleiter aus Gerolzhofen.
Damit sich solche Tragödien möglichst selten ereignen, ziehen viele – aber leider nicht alle – Landwirte und die Jägerschaft aus der Region an einem Strang. Bevor eine Wiese oder ein Klee-Acker gemäht werden soll, wird gemeinsam versucht, die möglicherweise in dem Feld liegenden jungen Rehe zu vergrämen.
Doch warum legen die Rehgeißen ihre Jungen nicht im Wald ab, beispielsweise in einem Dickicht, wo ganz sicher keine Mähmaschine vorbeikommt? Das liegt in der Natur der Tiere. "Rehe sind keine Waldtiere, sondern eigentlich Steppentiere", sagt Martin Rügamer. Ihr angestammter Lebensraum sind die offenen Felder, umsäumt von schützenden Hecken. Doch seit der Industrialisierung der Landwirtschaft müssen Rehe notgedrungen immer mehr Schutz suchen im Wald. Ihr Instinkt zwingt sie aber weiterhin dazu, ihre Jungen in offenen Flächen abzulegen – und eben nicht in einer Fichtendickung.
Kitze bleiben alleine
Die kleinen Kitze bleiben die meiste Zeit alleine im freien Feld. Die weiblichen Rehe schauen täglich, meist in der Dämmerung oder Dunkelheit, nur etwa eine halbe Stunde zum Säugen bei ihren Jungen vorbei, ehe sie wieder im Wald verschwinden. Was sich aus menschlicher Sicht recht herzlos anhört, macht aber Sinn und hat sich im Laufe der Evolution bestens bewährt. Würden die Geißen öfter zu ihren Jungtieren kommen, würden sie potenzielle Feinde erst auf ihren Nachwuchs aufmerksam machen.

Ein weiterer Schutz der Jungtiere ist der fehlende Eigengeruch. Dies ist auch der Grund, weshalb man zufällig entdeckte Kitze, so süß sie auch aussehen mögen, auf keinen Fall berühren sollte. Das Kitz könnte den Menschengeruch annehmen und so von der Mutter verstoßen werden. Es wäre das Todesurteil.
Perfekte Tarnung
Aufgrund ihrer Tarnung mit dem gefleckten Fell bleiben die Kitze praktisch unsichtbar. Selbst wenn man sich ihnen nähert, bleiben sie regungslos liegen und vertrauen auf ihre Tarnung. Auch erfahrene Jäger können deshalb schnell Kitze übersehen, wenn sie einen Klee-Acker oder eine Wiese vor der Mahd absuchen. Auch Martin Rügamer kann das bestätigen: Ein Acker wurde an einem kühlen Morgen mit einer an einer Drohne montierten Wärmebildkamera aus der Luft abgesucht. Dabei wurde die Wärmesignatur eines im Gras liegenden Kitzes entdeckt. "An dieser Stelle bin ich zuvor dreimal vorbeigelaufen und hatte nichts entdeckt", erinnert sich der Hegeringleiter.

Dass die kleinen Kitze sich instinktiv ins Gras drücken und ruhig liegen bleiben, egal was passiert, das mag gegen mögliche Fressfeinde helfen. Wenn sich aber die Mähmaschine eines Landwirts nähert, dann endet das angeborene Verhalten tödlich. Statt aufzuspringen und zu flüchten, geraten die Jungtiere in das Messerwerk der landwirtschaftlichen Maschine. Sie werden verstümmelt und sterben einen jämmerlichen Tod.
Jäger und Landwirte arbeiten zusammen
Dass es nicht zu solchen Tragödien kommt, arbeiten im Jagdrevier "Gerolzhofen 1" Jäger und Landwirte zusammen. Dieser Tage haben die Jäger Martin Rügamer, Moritz Rügamer und Ulrich Schemmel gemeinsam mit den Landwirten Simon Hotz und Markus Loos auf einer Fläche von rund 20 Hektar in den Klee-Äckern zwischen dem Neuen See und dem Mahlholz unterhalb der Waldesruh mehrere Maßnahmen zur Kitz-Vergrämung umgesetzt. Das Besondere dabei: Auch die Landwirte beteiligen sich an den Kosten der technischen Ausrüstung. Ein Modell mit Vorbildcharakter. "Ich finde das sehr lobenswert", sagt Hegeringleiter Rügamer.

Wenige Tage bevor Landwirt Simon Hotz (Waldschwinder Hof und Lindelachshof) auf seinen Luzerne-Äckern zum ersten Mal mähen wollte, begann am frühen Abend die Aktion. Mit dabei war auch Markus Loos vom Charoloais-Hof Behringer in Dingolshausen, der das Grünfutter von den Hotz-Feldern für sein Vieh abnimmt. Ziel der Vergrämung war es, auf den Feldern, die zum Mähen anstehen, optische und akustische Reize zu setzen, die die Rehgeißen irritieren. Die Muttertiere sollen damit animiert werden, ihre Jungtiere aus dem Kleefeld herauszuführen und an einen anderen, sichereren Ort zu bringen, beispielsweise in ein Getreidefeld.
Ein Müllsack im Wind
Die Jäger haben mehrere Möglichkeiten im Köcher, für eine gewisse Unruhe auf dem Acker zu sorgen. Die einfachste und auch billigste: Auf einem Stock wird ein blauer Müllsack aufgehängt. Das Rascheln des Plastiks im Wind ist ein ungewöhnliches Geräusch, das vom Reh als störend empfunden wird. Denn der Gehörsinn der Tiere ist extrem empfindlich.

Ihre Augen hingegen sind weniger leistungsfähig. Zwar registrieren die Tiere kleinste Bewegungen, auch die eines Müllsacks im Wind, sehr genau. "Rehe sind aber teilweise farbenblind", sagt Martin Rügamer. Das hängt mit dem Aufbau ihrer Augen zusammen, die aufs Sehen in der Dämmerung und im Dunkeln spezialisiert sind. Statt Rot oder Orange sehen Rehe nur Grüntöne. Blau hingegen ist für das Reh eine regelrechte Schreckfarbe, weil die Farbrezeptoren des Reh-Auges speziell für die Aufnahme blauer und grüner Töne geeignet sind. Dass die raschelnden Müllsäcke von Haus aus auch noch blau sind, verstärkt also ihre abschreckende Wirkung auf die Geißen.
Hoher Piep-Ton und blaues Licht
Eine weitere, ebenfalls einfach herzustellende Abschreck-Möglichkeit sind dünne glänzende Alu-Streifen, die – an einen Stock gebunden – im Feld positioniert werden. Das Rascheln und besonders die entstehenden Licht-Effekte der Streifen haben den gleichen Effekt wie ein Müllsack.
Technisch aufwändiger und auch teurer ist Möglichkeit Nummer drei: Ein batteriebetriebenes Gerät, das ebenfalls mit einem Stab im Feld platziert wird, gibt in unregelmäßigen Abständen jeweils etwa fünf Minuten lang einen für das scharfe Gehör des Rehs unangenehmen hohen Piep-Ton ab. Gleichzeitig blinkt ein blaues Licht. Das Gerät erzeugt so in einem Radius von rund 100 Metern eine Stimmung, die das Reh als unangenehm empfindet und dann ihr Kitz aus der vermeintlichen Gefahrenzone holt.
Den Tieren ihre Ruhe lassen
"Wir bringen acht solcher Pieper zum Einsatz", gibt Martin Rügamer vor, ehe er sich gemeinsam mit seinem Sohn Moritz, mit dem Jägerkollegen Schemmel und den beiden Landwirten zu Fuß aufmacht, die Warngeräte auf den verschiedenen Luzerne-Äckern am Mahlholz in Stellung zu bringen. "Hoffentlich hilft es."
Rügamer ist sich ziemlich sicher, dass im Klee einige Kitze liegen. Aber woher sollen die Rehgeißen überhaupt kommen? Gibt es im Mahlholz tatsächlich noch Rehe? "Ja, dort gibt es Rehe", sagt Rügamer, auch wenn man sie praktisch nicht sieht. Im Mahlholz seien pro Monat rund 7000 bis 8000 Menschen unterwegs, um Sport zu treiben oder um spazieren zu gehen, hat der Hegeringleiter mal ermittelt. "Die Rehe haben sich daran gewöhnt und ziehen sich in ruhige Gebiete abseits der Fußwege zurück." Aus diesem Grund, betont Moritz Rügamer, sollte man als Spaziergänger auf den Wegen bleiben und nicht quer durch den Wald marschieren. Um den Tieren ihre Ruhe zu lassen.