Sie sind hier geboren, sprechen perfekt Deutsch, nicht selten mit fränkischem Akzent. Sie gehen aufs Gymnasium, haben Abitur oder studieren bereits. Und doch haben sie oft Probleme, Zugang zu den Netzwerken zu finden, die über Bewerbungen, Karrieren oder schlicht gesellschaftliche Anerkennung entscheiden. Junge Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, die höhere Bildungsabschlüsse oder Leitungspositionen anstreben, kämpfen mit mehreren Handicaps.
Halil Cesur, Ausbildungsakquisiteur bei der Gesellschaft für berufliche Förderung (GbF) Schweinfurt, und Hakan Tercanli, Standortleiter bei Schäflein Logistics in Röthlein, haben deshalb auf privater Ebene ein eigenes Netzwerk ins Leben gerufen.
Als Angestellter der GbF, einer Tochter der Handwerkskammer, wirbt Halil Cesur bei türkischen Jugendlichen für das deutsche Bildungs- und Ausbildungssystem. „Türkische Jugendliche starten in der Regel zwei Jahre später in den Beruf“, sagt Cesur, der selbst aus Bartin am Schwarzen Meer stammt. „Weil sie sich schwertun, Informationsangebote wahrzunehmen, oft aus dem Gefühl heraus, dass sie eh nicht verstanden werden, dass ihnen eh nicht geholfen wird. Es gibt in Deutschland 360 Berufszweige. Wie sollen sich 14- und 15-Jährige da zurechtfinden? Und wenn dann noch Trägheit und Pubertät dazu kommen. . .“
Wie sich zeigt, tun sich auch die schwer, die alles richtig machen. Cesur und Tercanli haben deshalb ihre Kontakte genutzt und junge Frauen und Männer aus der türkischen Gemeinde in den Arbeitskreis „Potenziale erkennen – Potenziale fördern“ eingeladen. Etwa 20 Personen umfasst die Gruppe derzeit. Sie treffen sich zum Erfahrungsaustausch, besichtigen Betriebe, laden sich Diskussionspartner oder Trainer ein.
„Sehr viele türkische Jugendliche leben gehemmt. Sie sind es nicht gewohnt, sachlich zu diskutieren, und schöpfen deshalb nur 60 bis 70 Prozent ihrer Möglichkeiten aus“, sagt Halil Cesur. Und das gilt eben auch für „die Cleveren“, wie Hakan Tercanli sie nennt. Die Cleveren, die sich in Gegenwart ihrer Kumpels zurücknehmen, um nicht als überheblich dazustehen. Die Cleveren, die im heimischen Umfeld mit dem Strom schwimmen und deren Familien wenig Anteil an ihrer Laufbahn nehmen.
Hakan Tercanlis Eltern kamen in den 1970er Jahren aus der Türkei nach Deutschland. „Mein Vater war Facharbeiter, dem war egal, was ich in der Schule gemacht habe.“ Im Verein war es ähnlich. Tercanli hat beim türkischen Club Hilalspor Fußball gespielt und sich mit den Mannschaftskameraden durchaus verstanden. Aber wenn er mal ein anspruchsvolleres Gespräch führen wollte, fehlten ihm die Partner.
Tercanli hat keine Scheu, das Wort „Elite“ zu benutzen, wenn es um die Mitglieder der kleinen „Community“ geht. Die dennoch kein Luxusproblem hat, denn mit Top-Noten und Abitur ist noch nicht viel gewonnen. Immer wieder brechen junge Türken ihr Studium ab, weil sie das Gefühl haben, einfach nicht richtig dazuzugehören. Andere studieren, machen ihren Abschluss und gehen dann in die Türkei. „Sie gehen eben da hin, wo sie Anerkennung finden“, sagt Halil Cesur.
Grob gesagt: Der Türke als Kollege in der Produktion ist längst akzeptierter Alltag, aber wenn es darum geht, mehr als nur Standardaufgaben zu übernehmen, wird's schon schwierig. Türkischstämmige in höheren Positionen sind in der Wirtschaft immer noch die Ausnahme. „Ich kenne vielleicht zwei Handvoll“, sagt Tercanli.
Cesur und Tercanli wollen ihren Schützlingen deshalb einerseits helfen, Hemmungen zu überwinden und an ihrem Auftreten zu arbeiten. Sie sollen lernen, ihre Anliegen selbstbewusst und effektiv zu vertreten. Andererseits soll das Netzwerk den jungen Leuten Türen öffnen. „Wir haben ja die Kontakte. ZF, SKF, Fresenius suchen gute Leute, sie kennen sie aber nicht. Und über Bekanntschaften läuft unglaublich viel“, sagt Tercanli. Grundsätzlich geht es darum, dieses Land als Heimat zu begreifen, ohne die eigenen Wurzeln zu verleugnen. Seine Möglichkeiten zu nutzen und wenn nötig einzufordern.
Die Gruppenmitglieder sollen aktiv am gesellschaftlichen Diskurs teilnehmen. Wie an diesem Nachmittag, an dem Halil Cesur Kerstin Celina, Landtagsabgeordnete der Grünen, eingeladen hat. Als Sparringspartnerin, als Informationsquelle, als Mandatsträgerin eines politischen Systems, das es besser zu verstehen gilt.
„Alle Anwesenden hier sind in Deutschland geboren und sagen: ,Klar bin ich Türke'“, sagt Halil Cesur. „Sie wollen trotzdem gleichwertig behandelt werden und nicht immer wieder hören: ,Was willst du überhaupt?'“ Auf deutscher Seite tut man sich schwer, das zu verstehen, das hat auch Kerstin Celina beobachtet. „Sie sind längst hier angekommen, werden aber noch nicht als angekommen wahrgenommen“, sagt sie.
Der fremde Name als Karrierehindernis
An diesem Nachmittag sind nur Männer anwesend, weil die Frauen eine Klausur an der Hochschule für angewandte Wissenschaften FHWS schreiben. Die jungen Türken haben einen Fragenkatalog vorbereitet. Sie wollen wissen, ob Celina hinter allen Zielen ihrer Partei gleichermaßen steht. Welche Voraussetzungen man mitbringen muss, um Politiker zu werden. Wie Celina Politik und Familie vereinbart. Was Integration für sie bedeutet. Wie sie zum Thema Kopftuch steht.
Kerstin Celina antwortet sachlich und offen. Dass sie bei den Themen, die sie anders sieht als die Parteilinie, nicht unbedingt offensiv die Öffentlichkeit sucht. Dass man als Politiker vor allem den Willen haben muss, sich ein dickes Fell zuzulegen: „Es gibt wesentlich mehr negative Reaktionen als positive.“ Dass sich Familie und Politik nur mit eiserner Organisation vereinbaren lassen. Dass sie den Begriff Inklusion dem Begriff Integration vorzieht, im Sinne eines gleichberechtigten Zusammenlebens von Menschen unterschiedlichster Herkunft und Fähigkeiten. Wobei sie den Spracherwerb für eine unverzichtbare Aufgabe hält. „Der Rest sollte nicht mehr das Problem sein.“
Den Spracherwerb haben die Mitglieder der Gruppe längst bewältigt, das ist aber noch nicht überall angekommen. Ein fremdartig klingender Name wird immer noch mit mangelnden Sprachkenntnissen gleichgesetzt. Tomi (von Tomislav) Neckov, Sohn eines Serben, heute Schulleiter der Schweinfurter Albert-Schweitzer-Mittelschule, hat das in seiner Jugend auch erlebt. Noch am Gymnasium hat sich ein Lehrer vor ihm aufgebaut und ihn – sehr laut – gefragt: „Kannst du überhaupt Deutsch?“
Studien zeigen, dass Bewerbungen mit türkischem Namen schneller aussortiert werden, sagt Muhammed-Enes Sapmaz, Schülersprecher am Humboldt-Gymnasium. Celina hat einen Tipp: „Rufen Sie vorher in dem Betrieb an, und fragen Sie nach den Einstellungsvoraussetzungen. Stellen Sie im Gespräch klar, dass Sie diese Voraussetzungen erfüllen. Beziehen Sie sich in Ihrer Bewerbung dann auf das Telefongespräch.“
Sie sprechen Deutsch und Türkisch, Englisch sowieso, oft noch ein, zwei weitere Fremdsprachen. Sie können sich in verschiedenen Kulturkreisen bewegen, kennen unterschiedliche Blickwinkel auf die Welt. „Warum wird das nicht geschätzt?“, fragt ein Teilnehmer.
Türken sind oft pfiffiger als Deutsche
„Es ist, wie es ist“, sagt Hakan Tercanli trocken. Und warnt davor, in jeder Reaktion gleich Ausländerfeindlichkeit zu sehen. „Das ist meistens einfach Bequemlichkeit. Der Personalleiter fragt sich halt: Wenn ich den einstelle, passt der ins Team? Macht der Arbeit? Ein Türke und fünf deutsche Kollegen? Oje, oje, oje.“ Dabei seien Türken oft pfiffiger, wenn es darum geht, Probleme zu lösen. „Die Deutschen denken da eher standardisiert.“
Unsicherheit herrscht auf deutscher Seite auch beim Thema Religion. Während des Ramadan hat Halil Cesur laufend Anrufe aus Betrieben bekommen. Thema: Ist es in Ordnung, wenn ich fastende Muslime früher nach Hause gehen lasse? Hakan Tercanli antwortet: „Menschlich ja, arbeitstechnisch nein – man braucht Ausländer nicht zu bevorzugen.“
Bleibt noch die Kopftuch-Frage. Auch so ein Symbol der Fremdheit. Halil Cesur: „Ich kenne an der FH 30 Studentinnen, die Kopftuch tragen. Die werden Wirtschaftsingenieur.“ Kerstin Celina gibt zu, dass sich ihre Sicht über die Jahre geändert hat. „Das ist heute viel normaler als in meiner Jugend. Die Kopftücher sind viel bunter, fröhlicher bei den jungen Frauen – das passt. Ich weiß aber nicht, ob Lehrerinnen an Schulen unbedingt Kopftuch tragen müssen.“
Die Burka, also die vollkommene Verhüllung, lehnt sie dagegen ab. Wobei sie beobachtet hat, dass die besten Kundinnen auf der Nobelmeile Maximilianstraße in München Burka tragen. . . „Bei zahlenden Kundinnen ist es okay, bei Lehrerinnen nicht?“, hakt ein Teilnehmer nach. „Wenn sie damit keine Weltanschauung vertreten, habe ich damit kein Problem“, sagt Celina.
Es ist Hakan Tercanli, der wiederum ein Praxisbeispiel beisteuert: „Im Privatleben ist es ganz klar: Wenn meine Freundin Kopftuch trägt, dann haben das alle zu akzeptieren. Ich kann mir heute aber noch nicht vorstellen, dass bei uns jemand etwa im Vertrieb mit Kopftuch arbeitet. In 20 Jahren vielleicht. Die Person repräsentiert den Betrieb. Und wenn ich wegen des Kopftuchs nichts mehr verkaufe, sind andere Arbeitsplätze gefährdet.“
Einen ersten Effekt hat der Arbeitskreis übrigens schon gebracht: Gleich nach dem ersten Treffen hat Hakan Tercanli einen jungen Mann aus der Gruppe als Auszubildenden eingestellt.