Lassen Sie den Mann durch, er ist Arzt – zumindest entstammt Torsten „Teasy“ Zwingenberger, ebenso wie sein großer Bruder, der Boogie Woogie-Pianist Axel Zwingenberger, einer Hamburger Arztfamilie. Boogie Woogie gilt als musikalisches Antidepressivum, aber auch der Modern Jazz des kleinen Bruders klingt wie eine Mischung aus allen möglichen Stimmungsaufhellern: Soul, Latin, Bebop, Hardbop, Boogie, afrikanische Rhythmen. Zu hören in der Disharmonie, zusammen mit „Berlin 21“, einem 2013 gegründeten Quartett, benannt nach dem alten Postleitzahlbezirk der Hauptstadt.
Gemeint ist das gänzlich unglamouröse, aber brodelnde Berlin-Moabit, wo Zwingenberger seit Jahrzehnten lebt. Der Kiez ist bekannt für seine Kunstszene, den hohen Ausländeranteil und die Arbeiterviertel-Architektur, für große Söhne wie Farin Urlaub und Kurt Tucholsky, nicht zuletzt einen geschichtsträchtigen Knast, wo unter anderem Honecker und Mielke eingefahren sind. Der Name soll von hugenottischen Einwanderern stammen, die sich im biblischen Land der Moabiter wähnten, wo die Israeliten auf dem Weg ins gelobte Land hängengeblieben sind, versumpft bei Wein, Weib, Gesang: das New Orleans Berlins.
„Capital Letters“ nennt sich das aktuelle Album von „Berlin 21“, ein Wortspiel: „Briefe aus der Hauptstadt“, geschrieben in präzisen Großbuchstaben. Das Publikum am Main ist eher klein, aber der Jazz groß, in der Art von starkem, dampfendem, belebendem Kaffee, mit wenig Milch und Zucker. Vollblut-Jazztrommler Zwingenberger hat seit den 70ern mit großen Namen zusammengearbeitet – wie Big Joe Turner, Joe Pass, Harry Edison, Buddy Tate, Katie Webster, Red Holloway oder Plas Johnson, bekannt durch seinen Saxofon-Beitrag zum „Rosaroten Panther“.
Der charismatische Mittfünfziger ist eine regelrechte Krake am Jazz-Schlagzeug: „Drumming 5.1“ nennt sich seine Technik, bei der unter anderem fünf Pedale gleichzeitig bedient werden, teilweise mit der Ferse. Der Rest bearbeitet allerhand Percussion-Instrumente – Klappern, Rasseln, Handtrommeln.
Hier hebt sich ein fein geknüpfter, aber rasant fliegender, kraftvoller Klangteppich, auf dem ein 26 Jahre junger kanadischer Gitarrist schwebt, Benson McGlashan (als Nachfolger von Patrick Farrant), außerdem „Piano Man“ Lionel Haas und Bassist Martin Lillich.
Virtuos gefeiert wird die „Windy City“ und das windige Großstadt-Leben: „Das Synonym für Chicago, und nicht Berlin, ausnahmsweise.“ Mit dem Boogie geht's in die Bar. Dazwischen erklingen Blues-Ausflüge Richtung Kuba, die jede Herbstdepression vertreiben: „Selbsthilfegruppe fürs angstfreie Musizieren“, nennt Zwingenberger die Band scherzhaft, unter Verweis auf den guten Zweck, dem die mitgeführten Tonträger dienen.
In der Szene gilt „Berlin 21“ als „kerniger Mainstream Jazz“, aber in den Strom fließen Nebenflüsse aus allen möglichen magischen Parallelwelten: aus Afrika etwa, der Urheimat des Jazz, oder der quirligen Schwarzmeer-Region, mit einem „Black Sea Blues“. „Park Atmo“ nennt sich eine Hommage an die afrikanischen Straßenkünstler Berlins, mit rassigem Percussion-Feuerwerk und einem starken Bass-Solo von Martin Lillich. Als Zugabe folgt eine WM-Hymne, dem früh verglühten Jazzgitarristen Wes Montgomery gewidmet.
Zurück bleibt sehr viel gute Laune und ein urbanes Gefühl. „Sehr harmonisch“ sei es in der Disharmonie, lässt Zwingenberger am Ende den Beifall zurückfließen: „Unterstützen Sie die Kulturarbeit hier.“