Ein echter Revolutionär lässt sich kein y für ein i vormachen. Ein paar Frühlingstage lang war auch Schweinfurt mal sowjetisch, sprich Teil der Bairischen Räterepublik, die im April 1919 ausgerufen worden ist: „bairisch“, weil erst das verhasste (und griechenlandbegeisterte) Herrscherhaus der Wittelsbacher ein Ypsilon in den Landesnamen eingefügt hatte.
Es regnete Flugblätter, am Rathaus hing die rote Fahne, tausende Anhänger des „Arbeiter- und Soldatenrates“ demonstrierten auf der Maininsel, das „Tagblatt“ fungierte als Prawda der Genossen. Der Spartakisten-Aufstand wurde rasch niedergeworfen, in Schweinfurt von Freikorpskämpfern der „Eisernen Schar Berthold“, alias „Fränkisches Bauern-Detachment“. Bayern, zumindest das y, war gerettet.
Das Gedenken an die Novemberrevolution 1918 und deren Folgen steht der Republik erst nächstes Jahr ins Haus.
Einstweilen luden die Schweinfurter Erben Lenins zum Gedenkvortrag „100 Jahre Oktoberrevolution“ ein: „Was sagt uns das heute?“ Manfred Setter, Direktkandidat der MLPD (mit 215 Stimmen bei der Bundestagswahl), übernimmt am Bergl, im „Brauhausstüberl“, die Begrüßung von zehn Genossen: War der Rote Oktober von 1917 nur ein „Putsch von Extremisten gegen eine demokratische Regierung“, wie die „Westdeutsche Zeitung“ geschrieben hat?
Für die „Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands“ ist so was im Jubeljahr unhaltbar: Immerhin habe Lenin für Russland das Gemetzel des Ersten Weltkriegs beendet, der von der „Provisorischen Regierung“ wieder aufgenommen worden war. Die wiederum hatte im Frühjahr 1917 den gestürzten Zaren beerbt, Beginn einer Reihe revolutionärer Fieberschübe.
Erst als das Ausland, inklusive USA, Interventionstruppen gegen die Bolschewiki geschickt habe, sei es zum Bürgerkrieg mit Millionen Toten gekommen. Elektrifizierung, Alphabetisierung, Gesundheitsfürsorge, Arbeiter- und Frauenemanzipation: Die meist sehr jungen Sowjets, sprich Soldatenräte, hätten der SU viel Fortschritt gebracht, diese maßgeblich den Sieg über Hitler erkämpft.
Je mehr es bei den Kapitalisten krisele, mit Trump und Glyphosat, desto mehr seien sie bereit, den wahren Sozialismus mit bourgeoisen „Geschichtslügen“ in Misskredit zu bringen: Dieser Vorwurf wird im Nebenzimmer laut.
Misswirtschaft der Apparatschiks, Schauprozesse, Gulag-Terror? Die MLPD gibt zu, dass es im ersten sozialistischen Land der Welt „Fehler“ gegeben habe, zumal in der Stalinzeit. Nur dürfe sich der globale Kapitalismus ruhig auch mal mit seinen Opfern und Widersprüchen beschäftigen, heutigen Kriegen und weltweitem Hunger.
Es scheinen noch historische Rechnungen offen zu sein, 26 Jahre nach dem Bankrott der Sowjetunion. Genosse Horst Böhnlein hat seinen „Stschjot“ bezahlt, den typisch russischen Kassenbeleg, von einem Kantinenessen in St. Petersburg, mit Salzgurken-Suppe und Cordon Bleu, und ein Foto der 2 Euro-Quittung dabei.
Teures Pflaster Leningrad
Ansonsten sei das einstige Leningrad, Wiege der Weltrevolution, ein teures Pflaster geworden, für die Einheimischen: Manche Wohnungen kosteten umgerechnet zehntausende Euro, die Autos der Normalverdiener seien oft schuldenfinanziert, mit hohen Zinsen.
Der Schweinfurter Gewerkschaftler war als Teil der deutschen ICOR-Delegation an der Newa: Weltweiter Zusammenschluss sozialistischer Organisationen, die zum Jahrestag an einer Großdemo der KPRF teilgenommen haben, früher bekannt als KPdSU. Seitdem Lehrersohn Lenin die Zeitrechnung Papst Gregors eingeführt hat, wird die große sozialistische Oktoberrevolution am 7. November gefeiert. Eine große Delegation kam aus Nepal, auch (Süd-)Korea war gut vertreten. Das Hostel lag nahe am Finnischen Bahnhof, wo Wladimir Iljitsch Uljanow alias Lenin damals ausgestiegen ist, nach langer Zugfahrt: ein Schweizer Revolutionsexport, den das Deutsche Kaiserreich mehr als nur durchgewunken haben soll.
Am Abend des 25. Oktober 1917 donnerte an Bord des Panzerkreuzers Aurora der Startschuss für die Attacke aufs Winterpalais, dem Regierungssitz: als großes Kino verewigt bei Sergej Eisenstein. Immerhin rund 10 000 Aktivisten kamen nun zum Gedenken, zwecks Verbrüderung und Systemkritik am Nichtkommunisten Putin, zu dessen festem Repertoire allerdings auch die Sowjet-Nostalgie zählt.
Rote Fahnen gehörten zum Nachspielen dazu, ebenso wie Statisten, die sich für ein paar Rubel als Matrosen oder Rotgardisten fotografieren ließen. Die Oktjabrskaja Revoljuzija, einst Lokomotive der Weltgeschichte, hatte durchaus noch etwas Dampf im Kessel: „Die Demonstration war aufgestellt in Zehnerreihen“, staunt Böhnlein, „wenn man das bei uns machen wollte, müsste man die Luitpoldstraße auf voller Breite sperren.“
Wodka nach jeder Rede
Später gab es Reden, und nach jeder Rede Wodka: „Die Genossen, die schon in Russland waren, kannten das schon. Die meisten hatten das noch nicht genossen.“ Der Abend endete im Konzert, mit russischen Volksweisen ebenso wie sozialkritischen Liedern, etwa der MLPD-Hausband „Gehörwäsche“. Die Pause hielten einige schon für das Ende und gingen.
Eine Rundfahrt durch die Touristen-Metropole stand ebenfalls auf dem Programm, zwischen Peter- und Paul-Festung, Blauer Moschee, dem einstigen Nähmaschinen-Palast Singer und dem gerade Richtung 500 Meter emporwachsenden Gazprom Tower. Ein Besuch im Blockademuseum erinnerte an die hunderttausenden Toten der deutschen Belagerung: „Da hat man schon einen Kloß im Hals.“
Im Zweiten Weltkrieg schwer getroffen wurden auch die Kirowwerke, buchstäblich rote Erde, wo Traktoren ebenso wie Panzer vom Band gerollt sind, bevor im Kalten Krieg an Atom-U-Booten geschmiedet wurde.
Der Rote Oktober ist nun erst mal wieder in den Tiefen der Geschichte versunken. Horst Böhnlein hat russische Hartwurst und ukrainischen Wodka dabei, zum Trost mit Prost. Dazu gibt es kurdische Spezialitäten vom Wirt, und eine Debatte über ein internationales Seminar zum Thema, in Bottrop.
Nach dem Jubiläum ist für die MLPD vor dem Jubiläum. Nächstes Jahr haben die standhaften Schweinfurter Linkssozialisten sogar einen zweihundertsten Geburtstag zu feiern: Des Genossen Karl Marx, geboren am 5. Mai 1818 in Trier.