Eigentlich wollte Jens Lüning seinen einwöchigen Besuch in Schwanfeld damit verbringen, Scherben aus der Jungsteinzeit wissenschaftlich zu bearbeiten und zu katalogisieren. Aber es kamen, was in seiner Disziplin vermutlich nicht so oft passiert, brandaktuelle Ereignisse dazwischen. Jens Lüning ist emeritierter Professor für Vor- und Frühgeschichte. 20 Jahre lang hat er den Fundort Schwanfeld erforscht – gegraben, Funde ausgewertet, Schlüsse gezogen. 1970 hatte Hans Koppelt in der Grube für den Neubau der Schule die Überreste einer – wie sich herausstellte – 7500 alten Siedlung aus der Bandkeramik-Kultur der Neusteinzeit entdeckt.
Auf der Basis von Lünings Erkenntnissen nennt sich Schwanfeld heute „Ältestes Dorf Deutschlands“. Unter seiner Ägide ist hier auch das vor zwei Jahren eröffnete Bandkeramik-Museum entstanden, in dem eine entscheidende Phase der Menschheitsentwicklung dargestellt ist: der Übergang von der nomadisierenden Jäger- und Sammler-Kultur zur sesshaften Kultur, die Ackerbau und Viehzucht betreibt.
Doch dann kam aus dem Landesamt für Denkmalpflege eine Nachricht, die für einiges Aufstehen sorgte (wir berichteten): Ausgerechnet auf dem Gebiet der Nachbargemeinde Wipfeld, vielleicht einen Kilometer vom Fundort Schwanfeld entfernt, hat der Geophysiker Jörg Faßbinder mittels Magnetfeld-Untersuchungen den Standort der „Ältesten befestigten Siedlung Unterfrankens“ ausgemacht. So jedenfalls die Überschrift seines Artikels in den „Denkmalpflege Informationen“ des Landesamts. Demnach gab es hier vor 8000 Jahren einen mit etwa zehn Hektar ungewöhnlich großen, von einem mächtigen Grabenwerk umgebenen Marktflecken.
Dass das Gelände vorgeschichtliche Überreste barg, war seit Jahrzehnten durch Luftbilder und Scherbenfunde bekannt, im April hat Faßbinder es nun mit einem zehnköpfigen Team akribisch untersucht.
8000 Jahre – das wäre ein halbes Jahrhundert älter als Schwanfeld, aber so leicht gibt man sich dort nicht geschlagen. Professor Lüning ist überzeugt, dass Wipfeld jünger ist als Schwanfeld, und hat, um das zu untermauern, seine Woche in Schwanfeld nun eben genutzt, um einige Funde des angeblich ältesten Geländes unter die Lupe zu nehmen. Er sah sich das Gelände an, vor allem aber bat er vier der profiliertesten Sammler der Gegend – unter ihnen Hans Koppelt und Georg Schulz, dem das Museum etliche prominente Leihgaben verdankt –, ihm zu zeigen, was sie auf dem Wipfelder Acker über die Jahrzehnte so gefunden haben.
Und das sind – neben noch jüngeren Funden – ausschließlich Scherben der mittleren und der späten Bandkeramik-Zeit, die jeweils 150 Jahre dauerte. Die zeitliche Zuordnung ist relativ einfach: Selbst der Laie kann erkennen, wie sich die Verzierungen – die Bänder –, die in den nassen Ton gedrückt wurden, von eher groben hin zu immer filigraneren Mustern entwickeln. Scherben aus der ältesten Zeit, die 200 Jahre dauerte, sind auf dem Wipfelder Acker – anders als in Schwanfeld – überhaupt nicht aufgetaucht.
Faßbinder stützt seine Datierung ausschließlich auf die Erkenntnisse der Magnetometerprospektion. Jeder Eingriff in den Boden – eine Feuerstelle etwa, die Pfosten der Holzhäuser, Wege oder Gruben – hinterlässt eine Störung des Magnetfelds der Erde. Winzig zwar, aber nachweisbar. Jeder Messpunkt ergibt einen Bildpunkt, und so kann auch der Laie auf der Visualisierung einiges erkennen. Die Wallanlage etwa, deren zwei bis drei Meter tiefer, längst verfüllter Graben bis heute unter der Humusoberkante erhalten ist. Oder eine große, freie Fläche, die, so vermutet Faßbinder, möglicherweise als Markt- oder Versammlungsplatz diente. Wer genau hinschaut, erkennt sogar die recheckigen Umrisse der 50 Meter langen Häuser.
Der Graben und die Ausrichtung dieser Häuser liefern Lüning – neben den Scherben – weitere Gegenargumente: Grabenanlagen sind erst seit der mittleren, der Flomborn-Zeit (nach einem Fundort bei Worms), bekannt. Das schließt zwar nicht aus, dass es an diesem Standort bereits eine Siedlung gab, bevor die Wallanlage angelegt wurde. Einen Hinweis dafür gibt es allerdings nicht. Sicher aber ist, dass die Bandkeramiker in der ältesten Phase ihre Häuser in Nord/Süd-Richtung bauten, in der Flomborn-Zeit dann aber in Nordwest/Südost-Richtung – letzteres ist bei den Umrissen auf dem Wipfelder Plan der Fall.
Lüning glaubt auch nicht, dass die freie Fläche innerhalb der Wallanlage eine Art Marktplatz war. Eher vielleicht eine Lehmgrube oder eine Mergelgrube, wie sei aus Zeiten vor Erfindung des chemischen Düngers bekannt sind: Der kalkhaltige Unterboden wurde abgebaut, um ihn auf den Feldern als Dünger auszubringen. „Man müsste prüfen, ob es das hier gab“, sagt Lüning. Am wahrscheinlichsten aber sei, dass die Stelle schlicht am stärksten erodiert ist und deshalb die wenigsten Ergebnisse geliefert hat.
Faßbinders Untersuchung und deren Visualisierung hält Jens Lüning gleichwohl für ein „Meisterwerk der Ingenieurkunst“. Er will den Geophysiker um eine möglichst hochauflösende Darstellung bitten, auf der vielleicht weitere Details erkennbar wären. Der Plan würde es erlauben, sehr gezielt an bestimmten Stellen des Geländes kleine Schnitte zu setzen. Nicht etwa, um weitere Scherben oder Steinbeile zu finden, sondern um zu sehen, wo und wie genau diese Scherben oder Steinbeile liegen. Woraus man Rückschlüsse auf die Geschichte der Siedlung ziehen könnte, die wohl etwa 300 Jahre lang bestand. Lüning: „Wir sind nicht auf der Suche nach Funden, sondern nach Befunden.“
Lüning kommt zu folgendem Schluss: Schwanfeld ist 7500 Jahre alt, Wipfeld 200 Jahre jünger. Seinen stärksten Beleg dafür bringt der Professor ganz zum Schluss: „Vor 5500 vor Christus gibt es schlicht noch keine Bandkeramik. Mit der Angabe 8000 Jahre liegt Faßbinder also in jedem Fall falsch.“
Was immer aber die Wissenschaftler in Zukunft noch herausbekommen, Schwanfelds Bürgermeister Richard Köth ist argumentativ gerüstet: „Der Fundort Wipfeld liegt ohnehin zu einem Drittel auf Schwanfelder Gemarkung.“