zurück
Interview Marianne Birthler: Vom sich selbst Treubleiben
„Zum Glück ist einem der Druck nicht ständig bewusst“: Marianne Birthler hat sich in der DDR schon in der 9. Klasse als Oppositionelle zu erkennen gegeben.
Foto: Christine Blohmann/Hoffotografen | „Zum Glück ist einem der Druck nicht ständig bewusst“: Marianne Birthler hat sich in der DDR schon in der 9. Klasse als Oppositionelle zu erkennen gegeben.
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 11.12.2019 19:15 Uhr

Marianne Birthler, geboren 1948 in Berlin, hat sich in der DDR schon in der 9. Klasse als Mitglied der christlichen Jungen Gemeinde zu erkennen gegeben und ist sich bis zum Ende der DDR als unerschrockene Oppositionelle treugeblieben. Sie war Abgeordnete in der ersten freigewählten Volkskammer und später Bildungsministerin in Brandenburg. 1992 trat sie wegen der Stasi-Verwicklungen von Ministerpräsident Manfred Stolpe zurück. 1993/94 war sie Bundessprecherin von Bündnis 90/Die Grünen und von 2000 bis 2011 Nachfolgerin von Joachim Gauck als Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR. In ihrer Autobiografie „Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben“ erzählt sie von der allgegenwärtigen Bespitzelung und Gängelung im SED-Staat, aber auch von den vielen Menschen, die den Mut hatten, in kleinen und großen Gesten Widerstand zu leisten. Am Donnerstag, 20. November, liest sie auf Einladung der Stadtbücherei um 19.30 Uhr in der Rathausdiele.

Frage: Wie fühlt es sich an, wenn eine ganze Behörde nach einem benannt ist?

Marianne Birthler: Ach, Sie fangen von der Behörde an. Das liegt ja nun schon ein paar Jahre zurück. Gehören Sie zu denen, die mich immer noch als Bundesbeauftragte sehen?

Ich gehöre zu denen, die Ihren Namen sofort mit „Bindestrich Behörde“ ergänzen. Tatsächlich, ja.

Birthler: Ich selbst habe diese Bezeichnung nie verwendet, weil ich sie auch nicht angemessen finde. Aber mein Kampf dagegen war auch erfolglos.

Auch? Was war sonst noch erfolglos?

Birthler: Genauso wie mein Vorgänger. Der mochte es auch nicht, dass die Behörde „Gauck-Behörde“ heißt. Wahrscheinlich liegt das daran, dass der tatsächliche Name so kompliziert ist. Ich sage immer „Stasi-Unterlagen-Behörde“.

Dieser Tage wird viel darüber diskutiert, ob die deutsche Einigung denn nun auch im Inneren vollzogen sei. Wie sehen Sie das?

Birthler: Vielleicht ist das eine Generationsfrage. Meine Enkel denken darüber bestimmt anders als meine Töchter oder ich. Wir haben es schon noch mit zwei verschiedenen Kulturen zu tun, zumindest in meiner Generation ist das noch zu spüren. Außerdem kommt es immer darauf an, wo Sie hinschauen. Wenn Sie sehen, wie sich die Innenstädte im Osten verändert haben, werden Sie wenig Unterschiede feststellen. Aber dort, wo es um wichtige Entscheidungen und um Macht geht, sieht die Bilanz schon anders aus. Da sind Ostdeutsche kaum vertreten. Da darf man sich nicht davon täuschen lassen, dass wir eine ostdeutsche Kanzlerin und einen ostdeutschen Bundespräsidenten haben.

In der Wahrnehmung vieler Menschen hat der Westen bei der Vereinigung alles bestimmt – sehen Sie das auch so?

Birthler: So simpel würde ich das nicht ausdrücken, denn es war der mehrheitliche Wunsch der Ostdeutschen, der Bundesrepublik beizutreten. Und natürlich sind 40 Jahre bundesrepublikanische Erfahrung in die deutsche Einheit eingeflossen. Zumeist hat der Osten davon profitiert, manchmal gab es auch Spannungen. Und nicht alles wird zentral gesteuert – die ostdeutschen Länder treffen ihre eigenen Entscheidungen.

Würden Sie sagen, dass im Osten auch eine andere Politikkultur herrscht?

Birthler: Ich glaube einfach, dass 40 Jahre Leben in unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Systemen auch zu einer anderen Kultur führen. Manchmal merke ich es noch an der Sprache oder der Art aufzutreten.

Mauer, DDR – für viele Jugendliche ist das Frühgeschichte, mit der sie keinerlei persönliche Erfahrung verbinden. Wie sind Ihre Erfahrungen, wenn Sie mit jungen Leuten über dieses Thema sprechen?

Birthler: Ganz überwiegend erfreulich. Wenn Jugendliche die Gelegenheit haben, sich mit Geschichten, Erfahrungen und konkreten Menschen auseinanderzusetzen, ist das Interesse sehr groß.

Sie beschreiben die Angst, die Beklemmung und das Misstrauen, das das Leben in der DDR kennzeichnete. Wie lebt man jahrzehntelang mit diesem Druck?

Birthler: Zum Glück ist einem dieser Druck nicht ständig bewusst, und wir haben uns dafür entschieden, ihn auszuhalten. Weil es uns als das bessere Leben erschien, uns nicht mit unserer Meinung zu verstecken. Sondern wahrhaftig zu leben und sich treuzubleiben. Das ist ja auch ein Gewinn an Lebensqualität. Selbst wenn man dafür einen Preis zahlt.

Gleichwohl äußern Sie auch Verständnis für die Menschen, die es nicht geschafft haben, sich treuzubleiben. Dafür, wie nah Mut und Anpassung beieinanderliegen. Trotz vieler menschlicher Enttäuschungen spürt man aber keine Verbitterung.

Birthler: Ich gehöre auch nicht zu den verbitterten Menschen, und unter dem Strich glaube ich, habe ich mehr gute als schlechte Erfahrungen gemacht: im privaten Kreis, mit politischen Freunden und in meiner Arbeit.

Sie beschreiben sogar komische Seiten der DDR. Etwa wie die Jugendlichen an ihrem 12. Geburtstag die Tatsache feierten, dass nur noch 53 Jahre bis zur Rente und damit zur Ausreise blieben. Ist das ein spezieller ostdeutscher Galgenhumor – den kenne ich aus dem Westen nicht.

Birthler: Humor gibt es natürlich in Ost und West. Aber in Diktaturen gibt es nun mal viel mehr politische Witze als unter demokratischen Bedingungen. Weil sie eine Ventilfunktion haben, mit der man Druck abbauen kann. Eine Art Überlebensmittel also. Das ist nicht nur auf die kommunistischen Länder beschränkt.

Sie sind im Buch oft selbstkritisch. Zum Beispiel über Ihre Zeit an der Spitze der Grünen. Wie groß war der Schock, als Sie in diesen bunten Haufen der West-Grünen geraten sind, mit Fundis, Realos und so weiter?

Birthler: Die West-Grünen waren ja ein Spezialfall des Westens insgesamt. Die Ostdeutschen mussten von einem Tag auf den anderen sehr, sehr viel dazulernen. Das war zum Teil sehr anstrengend. Und bei den West-Grünen gab es zusätzlich die Besonderheit, dass sie eine Partei der Nachkriegsgeneration war, westeuropäisch sozialisiert, ohne viel Verbindung in den Osten. Da gab es kaum Leute, in deren Leben gesamtdeutsche Ideen irgendeine Rolle gespielt hätten. Viele Linke in der Partei fremdelten auch spürbar mit der DDR-Opposition.

Sie beschreiben das Desinteresse westdeutscher Politiker, sich mit der Stasi-Vergangenheit auseinanderzusetzen. Ihr Kampf für die Freigabe der Akte Kohl ist da exemplarisch. Dass die ostdeutsche Prominenz nicht scharf auf eine Aufarbeitung war, leuchtet ein. Aber warum diese Geschichtsvergessenheit bei Kohl, Schily und Schröder?

Birthler: Ich glaube, dass es da unterschiedliche Begründungen gibt. Das reicht von Desinteresse am Osten über die Angst, dass Aufarbeitung Zwietracht säen könnte, bis hin zu einem generellen Unbehagen, zurückzuschauen. Helmut Kohl etwa stand in der Tradition von Konrad Adenauer, der die „Naziriecherei“ abgelehnt hat, obwohl man ihm selbst ja gar nichts vorwerfen konnte. Kohl hat mehrfach öffentlich deutlich gemacht, dass er von der intensiven Beschäftigung mit der SED-Diktatur und insbesondere mit den Stasiakten nicht viel hält. Diese Zurückhaltung finden Sie quer durch das politische Spektrum. Ich hatte als Bundesbeauftragte in allen – in fast allen – Bundestagsfraktionen engagierte Unterstützer. Aber es gab eben überall auch Leute, die dieser Arbeit ablehnend oder gleichgültig gegenüberstanden. Das machte die Sache übrigens auch interessant: Es war schwer auszurechnen, wie sich die Mehrheiten bilden würden. Aber eines muss man gerade im Vergleich zu anderen Ländern sagen, die Diktaturen überwunden haben: In Deutschland gab es immer eine klare politische Mehrheit, die die Öffnung und Aufarbeitung der Akten – und auch die Tatsache, dass dafür viel Geld ausgegeben wird – unterstützt hat.

Was löst denn das derzeitige mediale Hinfiebern auf den 9. November als 25. Jahrestag des Mauerfalls bei Ihnen aus?

Birthler: Ich sehe das eher nüchtern, weil ich glaube, dass Jahrestage ein gutes Medium sind, um bestimmte Themen in der Öffentlichkeit zu erinnern und zu diskutieren. Auch Wertschätzung zu erzeugen für das, was damals geschehen ist. Mir persönlich liegt immer daran, darauf hinzuweisen, dass die Freiheit nicht durch den Mauerfall über uns gekommen ist, sondern durch das, was voranging: eine friedliche Revolution.

Marianne Birthler liest am Donnerstag, 20. November, um 19.30 Uhr in der Rathausdiele. Vorverkauf in der Stadtbücherei. Schüler/Studenten 5 Euro. Erwachsene im Vorverkauf 10, an der Abendkasse 12 Euro.

 
Themen & Autoren / Autorinnen
Mathias Wiedemann
Abgeordnete
Autobiografien
Bespitzelungen
Bundeskanzler Konrad Adenauer
Bündnis 90/ Die Grünen
Christentum
DDR
Helmut Kohl
Interviews
Joachim Gauck
Kultus- und Bildungsminister
Manfred Stolpe
Marianne Birthler
Ministerium für Staatssicherheit
Ministerpräsidenten
Oppositionelle
Stadtbüchereien
Volkskammer
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen
Kommentare
Aktuellste
Älteste
Top