Das Schlimmste war die Nacht in der Gaskammer von Auschwitz. Nicht als jüdischer Delinquent, sondern als deutscher Kriegsgefangener. Es war die Nacht der unaufhörlichen Todesangst. Mit Hunderten von Kameraden fürchtete Karl Bauer, die Russen könnten jede Sekunde die Gasventile öffnen. Manche schlossen mit ihrem Leben ab, das zuletzt nur noch aus Gewalt und Tod und Verwüstung bestanden hatte. Die Nacht zog sich endlos hin. Und sie lebten immer noch. Dann öffneten sich die Tore der Kammer und die Menschen blickten in einen strahlend blauen Himmel. Das Gas war nicht gekommen. Die Gefangenen durften ins Freie hinaustreten. Die Russen wollten den Deutschen nur einmal zeigen, wie es ist in einer Gaskammer.
Karl Bauer erzählt nur noch stockend und mit erstickter Stimme von diesem Erlebnis, durchaus den Tränen nahe. Je weiter er fortschreitet in der Schilderung seiner Erlebnisse in den sieben Jahren Krieg und Gefangenschaft, desto aufgewühlter wirkt er. Vielleicht, so empfindet sein Gegenüber, wäre es besser gewesen, dieses Gespräch nicht zu führen.
Doch es will heraus aus Karl Bauer. Jetzt, fast 65 Jahre nachdem er aus der Kriegsgefangenschaft in Sibirien heimgekehrt ist. Es wird nicht mehr lange dauern, bis auch die letzten Kriegsteilnehmer nicht mehr so strukturiert und authentisch aus dieser schlimmen Zeit erzählen können wie Karl Bauer. Vielleicht ist das die größte Legitimation für dieses Gespräch.
Lachen bei der Grundausbildung
Es fing alles ganz harmlos an. Mit einem Späßchen sozusagen. Karl Bauer wurde Mitte 1942 aus dem ruhigen Dorf-Idyll von Dingolshausen zur Wehrmacht einberufen, nach Pilsen. Dort gab es eine mehr oder weniger lockere Grundausbildung für die Rekruten. Ein Unteroffizier fragte die angetretenen Jungsoldaten eines Morgens, wer sich nicht gekämmt habe. Karl Bauer meldete sich. Der Unteroffizier fragte grimmig nach dem Grund für diese Nachlässigkeit. Karl Bauer nahm den Helm ab. Er war damals schon glatzköpfig. Allgemeines Gelächter. Der Vorgesetzte fühlte sich veräppelt und strafte Bauer fortan mit Nichtbeachtung.
Das ist die einzige Stelle in der langen und detailreichen Erzählung Karl Bauers, an der der 88-Jährige selbst lachen muss.
Es wird schnell ernst. Nach kurzer Ausbildung an der Panzerabwehrkanone hieß es fertigmachen für die Front. Die lag am Ilmensee und gehörte zum Nordabschnitt der Ostfront. Karl Bauer machte bei Grabarbeiten an der Hauptkampflinie erste Bekanntschaft mit dem Eisernen Gustav, einem Leichtflugzeug der Russen, das beim Annähern an die Front den Motor abschaltet und lautlos über dem Kampfgeschehen schwebte. Dann warf es seine todbringenden Granaten ab. Karl Bauer sah die ersten Kameraden aus der 8. Jägerdivision fallen.
Endloser Sumpf, hinterhältige Heckenschützen, viele Läuse, später die große Kälte prägen die nächsten Monate. Dann wieder eine entspanntere Episode, die letzte in Karl Bauers Schilderungen. „Wir wurden in den Süden, in die Karpaten verlegt. Das war eine wunderschöne Reise durch den russischen Frühling – ohne Feindberührung“, sagt er. Von dort beginnt schon bald der große Rückzug. „Wir waren jeden Tag auf der Flucht vor den Russen, die uns einkesseln wollten“, sagt Bauer. Erst Rumänien, dann Ungarn, dann die Slowakei, es ging immer weiter heim ins Reich. Ununterbrochen und immer zu Fuß. Bauer sah deutsche Soldaten, die sterben wollten, weil sie genug hatten vom Krieg und keinen andern Ausweg mehr erkannten als den Tod. Er sah gefallene Kameraden, junge, hoffnungsvolle Kerle, die die Gejagten zurücklassen mussten, ohne ein halbwegs anständiges Begräbnis. In der Truppe hatte sich längst die Einsicht festgesetzt, dass der Krieg verloren war. Nur laut sagen durfte man das nicht.
In Ungarn brannte sich das Bild vom Weinkeller in Karl Bauers Gedächtnis ein, in dem bester Tokajer 20 bis 30 Zentimeter hoch stand, weil deutsche Landser in die Fässer geschossen hatten, nur dass die Russen nichts von diesem Wein bekamen.
Die Russen erbeuteten auch noch eins der letzten Geschütze, das sie hatten. „Sie schossen mit unserer eigenen Waffe auf uns. Wir haben Gott, die Welt und vor allem den Hitler verflucht“, sagt Bauer erregt.
Jede Verbindung nach außen war abgebrochen. So erlebt die Truppe von Karl Bauer nicht einmal das Kriegsende am 8. Mai bewusst mit. Es war eine skurrile Übergangszeit in der Tschechei. Karl Bauer hielt es für selbstverständlich, dass er nun heim dürfte. Ein Tscheche versuchte, den gelernten Schuhmacher mit seiner Tochter zu verkuppeln. Er wäre der geeignete Nachfolger gewesen.
„Ich wollte nie Soldat werden“
Mit dem Heimgehen wurde es nichts. Die Russen trieben 35 000 Mann der geschlagenen Hitler-Truppen in Ölmütz zusammen und zu Fuß ging es weiter nach Ausschwitz. Erst da erfuhr Karl Bauer, so beteuert er, von einem alten Soldaten, was hier mit den Juden geschehen war. „Wir werden jetzt vergast wie die Juden“ – an diese Worte des Alten erinnert sich Bauer noch, als wären sie gestern gefallen.
„Ich wollte nie ein Soldat werden und ich war auch kein Soldat. Ich habe darunter gelitten“, beschreibt Bauer wie so viele das Schicksal einer vergewaltigten Generation. Eines aber hat er mit heimgenommen aus den endlosen Weiten Sibiriens. Im Lager dort hat er mit einem Russen die Friedenspfeife geraucht – ganz buchstäblich und mit amerikanischem Tabak. Den Russen hat der Dingolshäuser „als ruhigen und zufriedenen Menschen kennengelernt – wenn er nicht aufgehetzt war“. Bauer hat seinen inneren, persönlichen Frieden mit dem einstigen Feind geschlossen. Es gibt keinen Hass mehr. Das tut ihm gut. Auch jetzt noch, im hohen Alter.
Karl Bauer ist im September 1949 aus der Kriegsgefangenschaft nach Deutschland zurückgekehrt. Der Hitler-Krieg hat ihn siebeneinhalb Jahre seines Lebens gekostet. Deswegen wundert es ihn, dass unter den deutschen Kriegsgefangenen immer noch ein gespaltenes Verhältnis herrschte. „Die einen haben Hitler verflucht, die andern hielten immer noch treu zu ihm.“
Als der Zug mit 800 Kriegsheimkehrern die Oder überquerte und auf deutsches Gebiet fuhr, stimmten die Soldaten das feierliche Lied „Großer Gott, wir loben dich“ an.
Sein Vater holte Karl Bauer am 9. November 1949 nach mehreren vergeblichen Versuchen am Bahnhof in Gerolzhofen ab. Jetzt waren es nur noch zwei Kilometer bis Dingolshausen.