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Immer Angst und Hunger
ZwangsarbeitIn Schweinfurt waren in der Nazi-Diktatur zwischen 10 000 und 12 000 Menschen als Zwangsarbeiter eingesetzt. Sie mussten hauptsächlich in der Großindustrie für die Rüstung arbeiten.
Von unserem Redaktionsmitglied Hannes Helferich
 |  aktualisiert: 15.12.2020 13:07 Uhr

In nahezu rechtloser Stellung zwang man sie unter unmenschlichen und zerstörerischen Bedingungen für das Deutsche Reich zu arbeiten. Sie waren in Lagern untergebracht, die von den Betrieben unterhalten und verwaltet wurden. Für jeden Zwangsarbeiter mussten die Betriebe zahlen. Die Lager standen hauptsächlich in der Nähe der Fabrikanlagen von Fichtel & Sachs (heute ZF Sachs), Vereinigte Kugellagerfabriken (heute SKF), Rotenburger Metallwerke (gibt es nicht mehr), Deutsche Star (heute Bosch-Rexroth) und FAG Kugelfischer in Oberndorf.

Die Schweinfurter „Initiative gegen das Vergessen“ bot nun erstmals eine Führung entlang der Ex-Lager an. Sie wird diese Tour künftig wie die anderen Führungen zu den Stätten des Faschismus regelmäßig anbieten und plant, mit Zeit- und Hinweistafeln an die acht Zwangsarbeiterlager in den Bereichen Obere und Mittlere Weiden sowie am Gelände des Sportvereins Oberndorf zu erinnern.

Eine weitere Idee ist es, eine Baracke naturgetreu als eine Art Mahnmal wieder aufstellen und darin mehrere Einzelschicksale mit Fotos, Dokumenten und Briefen vor Augen zu führen. Im Stadtarchiv liegen die Baupläne für die Baracken. Das Lager Kugelleite (Vereinigte Kugellagerfabriken) zum Beispiel wurde geplant für 16 solcher Schlafbaracken, für je 120 Zwangsarbeiter. Sie waren 42,50 Meter lang und 12,50 Meter breit. Es gab aber auch andere Typen in anderen Lagern, Größe zum Beispiel 42,53 x 12,58 Meter.

Ein nur kleiner Ausschnitt aus der umfangreichen Forschungsarbeit der achtköpfigen Initiativengruppe über die Zwangsarbeit ist Bestandteil der neuen Führung, zu der Klaus Hofmann rund 25 Bürger begrüßen konnte. Die Willkür der Verschleppungen durch die Nazis machte Hofmann an einigen der rund 90 Zwangsarbeitern fest, deren Schicksal die Initiative mittlerweile im Detail kennt, mit denen sie Interviews geführt hat oder Dokumente und Fotos besitzt. Namentlich sind mehr als 900 Zwangsarbeiter bekannt, die in Schweinfurt schreckliche Jahre ihres Leben verbringen mussten.

„Damals waren wir alle sehr hungrig und arbeiteten jeweils zwölf Stunden. Wir wurden immer begleitet von Schimpfworten und fürchteten uns.“

Der ehemalige Zwangsarbeiter Vitaly Melichov aus der Ukraine

Der Franzose Raymond Cousin beispielsweise war 22 Jahre war alt, als er Ende 1943 auf offener Straße in Paris aufgegriffen, ohne Angaben von Gründen verhaftet und ins Deutsche Reich, später nach Schweinfurt verfrachtet wurde. „Das war im Prinzip eine Entführung“, sagte Hofmann. Cousin musste bei FAG, VKF und F & S arbeiten. Zu den Fotografien des Italieners Leonardo Calossi schilderte Hofmann dessen schwere Zeit in Schweinfurt, im Lager Mittlere Weiden (Kugelfischer) am Main. Calossi, bald 96 (!) Jahre alt, besuchte Schweinfurt 2004 erstmals wieder. Über sein Leben hat die Initiative ein Buch veröffentlicht, hat zu ihm Kontakt.

Bekannt ist auch das Erleben des Ukrainers Vitali Melichov, den die Initiative 2004 mit vier früheren Zwangsarbeitern nach Schweinfurt einlud. Auch diese Ukrainer und viele verschleppte Frauen aus der Ukraine waren 17, 18, 19 Jahre, eine sogar erst 13 Jahre alt, als sie „entführt“ wurden. Zwei Mitglieder der Initiative besuchten 2007 mehrere heute betagte Frauen, die in Schweinfurt Zwangsarbeiterinnen waren. Näher bekannt ist das Leiden von 93 Frauen, die in Briefen ihren harten Überlebenskampf trotz der langen Zeit sehr detailliert schilderten. Daneben verdankt die Initiative der Gründlichkeit der deutschen Bürokratie ihre mittlerweile stattliche Materialsammlung.

Das Stadtarchiv besitzt Pläne der Großfirmen über die Barackenlager Mittlere Weiden nahe dem Main für rund 2400 Zwangsarbeiter und Obere Weiden neben dem heutigen Vereinsgelände des TV Oberndorf. VKF, Fichtel & Sachs, Deutsche Star und die Rotenburger Metallwerke beantragten dort die Unterkunft für jeweils 2000, 1500 bis 1800, 500 beziehungsweise 240 Zwangsarbeiter. Die Existenz vieler weiterer, kleinerer Lager ist heute bekannt wie der Tanzsaal des „Schwarzen Adler“ in Oberndorf. Platz war da für zirka 80 Russen. Für die Mittleren Weiden wurde 1943, um Erkrankungen zu vermeiden, der Antrag zum Bau einer „Entwesungsanlage“ (= Desinfektion) gestellt. Eine Firma Bumann aus Dortmund pries via Wurfzettel ihre luftangriffsicheren Lampen zur Lagerbewachung an. Die Firmen selbst gründeten eigene Unternehmen für die Lebensmittelversorgung.

Mit welchen Hohn die Nazis arbeiteten, zeigte der in Schweinfurt bei Kugelfischer tätige, spätere Gauleiter Thüringens, Fritz Sauckel. In einer Ansprache forderte er unverblümt auf, Menschen zur Zwangsarbeit zu verschleppen: „Es darf kein besetztes Gebiet mehr geben, in dem nicht die Dienstverpflichtung für Deutschland das Selbstverständlichste von der Welt wird“.

Tiefen Eindruck machten Hofmanns Schilderung über das streng geregelte Lagerleben für die „rechtlosen, oft willkürliche Objekte“. Man konnte die von der täglich mindestens zehnstündigen Zwangsarbeit ausgemergelten Menschen am eigentlich freien Wochenende privat zum Arbeiten ausleihen. Bürger nutzten das aus, etliche aber auch dazu, um den armen Geschöpfen auch einmal ungestraft Essbares reichen zu können. Weil die drangsalierten Zwangsarbeiter eines immer hatten: Hunger.

„Der Umgang durch Schreie, Schläge und Demütigungen war unmenschlich. Religiöse Betätigung war verboten, Sexualität ebenso. Sie wurde brutal bestraft“

Klaus Hofmann, Sprecher der Schweinfurter Initiative gegen das Vergessen

Vitaly Melichov, der von März 1942 bis Mai 1945 bei VKF in Schweinfurt und später im Außenlager Neckarzimmern eingesetzt war, schildert eindrucksvoll: „Damals waren wir alle sehr hungrig und arbeiteten jeweils 12 Stunden (...). Bald begann aufgrund dieser schwierigen Bedingungen eine Distrophie. Mein Körper begann anzuschwellen, besonders die Beine. Ich konnte mich kaum bewegen. Der Weg zur Arbeit und zurück war weit (...). Aber die Bewachung und der Konvoi trieb uns mit Gewalt zur Arbeit und wir wurden immer begleitet von Schimpfworten und wir fürchteten uns“.

Die Arbeitsbedingungen waren hart, die Zwangsarbeiter mussten schwere, schmutzige, niedere Tätigkeiten verrichten. Und immer der Hunger, dadurch bedingte Krankheiten und der unmenschliche Umgang durch Schreie, Schläge, Demütigungen. Religiöse Betätigung war verboten, Sexualität ebenso. Sie wurde brutal bestraft, so Hofmann.

Zwei Russen, die Brot und Kartoffeln gegen aus Holz geschnitzte Figuren eingetauscht hatten, mussten durch ein Spalier anderer Zwangsarbeiter laufen. Weil die anderen Gefangenen nach Meinung eines Bewachers nicht genug mit den Holzlatten auf sie einprügelten, mussten sie erneut durchs Spalier laufen. Dieses Mal trugen die zwei Russen blutende Kopfwunden davon.

Aber nicht alle zeigten sich inhuman, wenngleich helfen brandgefährlich war. Der Initiative liegen zahlreiche Akten-Notizen vor, in denen solches „Handeln“ von „deutschen Gefolgschaftsangehörigen“ geschildert wird. Vom F & S-Werksangehörigen mit der Stechkarten Nr. 1508 beispielsweise, der beobachtet wurde, wie er einem Ostarbeiter ein Stück Brot zusteckte. In der Notiz wird zeilenlang diskutiert, wie der geständige deutsche Fabrik-Arbeiter zu bestrafen sei.

Höhepunkt der neuen Führung aus Sicht der Initiative waren Aussagen von drei Zeitzeugen, die viele Details bestätigten und ergänzten. So erzählte ein älterer Teilnehmer, dass er als Junge Runkel-Rüben aus dem Feld ausriss und den hungrigen Männern hinter dem Stacheldraht eines Lagers hinüberschleuderte. Die Zwangsarbeiter verschlangen diese „mit Haut und Haaren“. Der gemeinsam mit dem Bürgerverein Oberndorf veranstaltete Rundgang endete im alten Feuerwehrhaus. Hofmann erklärte dort, dass es in der Recherche noch Löcher gibt. Vor allem Fotos der Lager und Baracken sowie weitere Erzählungen über Begegnungen mit den Zwangsarbeitern am Arbeitsplatz und vor den Lagern wären interessant, zumal von den heutigen Firmen keine Informationen zu erhalten seien. Kontakt über zwangsarbeit@web.de oder die Disharmonie. Die Führung wird im Frühjahr wiederangeboten.

Die oft blutjungen Zwangsarbeiter mussten OST-Arbeiterzeichen tragen, hier Ukrainer mit Vitaly Melichov (Zweiter von links).
Foto: Initiative | Die oft blutjungen Zwangsarbeiter mussten OST-Arbeiterzeichen tragen, hier Ukrainer mit Vitaly Melichov (Zweiter von links).
Das Stadtarchiv besitzt Baupläne über Barackenlager in Schweinfurt, die die Firmen bei der Stadt einreichen mussten, hier die Ausbauplanung für das Kugelfischer-Lager „Mittlere Weide“.
Foto: Stadtarchiv | Das Stadtarchiv besitzt Baupläne über Barackenlager in Schweinfurt, die die Firmen bei der Stadt einreichen mussten, hier die Ausbauplanung für das Kugelfischer-Lager „Mittlere Weide“.
Erstmals bot die Initiative gegen das Vergessen eine Führung entlang der Ex-Lager an. Klaus Hofmann erklärt an den Mittleren Weiden – Standort unter der A 70 – das brutale Lagerleben.Foto: Helferich
| Erstmals bot die Initiative gegen das Vergessen eine Führung entlang der Ex-Lager an. Klaus Hofmann erklärt an den Mittleren Weiden – Standort unter der A 70 – das brutale Lagerleben.Foto: Helferich
 
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