Tausend Siedlungen, das ist die Übersetzung des Namens der Halbinsel Mangyschlak, die im Südwesten Kasachstans gelegen ist, begrenzt im Westen vom Kaspischen Meer, im Süden von Turkmenistan und im Osten von Usbekistan. Die Schönheit Mangyschlaks ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Wir beginnen mit zwei Felsformationen im Norden der Halbinsel: dem Zeugenberg Sherkhala, „Tigerstadt“, und den Felsen von Akmyschtau, „Tal der Schlösser“.
In der Steppe erhebt sich fast senkrecht und lang gestreckt der Sherkhala, an seinen Steilwänden sind verschiedene Schichten, deren auffälligste blendend weiß leuchtet. Akmyschtau dagegen ist eine halbkreisförmige Anordnung von Erhebungen, die durch Erosion zu Säulen und Türmchen geformt wurden und von verschiedensten Farbtönen durchzogen sind. Wir erkunden die Gegend zu Fuß und müssen uns zuerst an die Schnarrheuschrecken gewöhnen, die bei fast jedem Schritt mit lautem Schnarren auffliegen. Auch Schildkröten treffen wir an, Raben, Falken und verschiedenen Schwalbenarten bewohnen die Felsen. In der Steppe stehen ab und zu Pferde oder Kamele, seltener Kühe, aber es gibt hier keine Hirten und so scheinen wir die einzigen Menschen in der Gegend zu sein.
Die Steppe ist bedeckt von Wermut. Es duftet, als hätte die Natur eine Parfümflasche geöffnet. Straßen gibt es hier kaum, hier fährt man auf Pisten, die sich durch die Natur ziehen wie dünne Fäden, sich sanft schlängeln, die wenigen Bauernhöfe miteinander verbinden oder an der Küste im Nirgendwo enden.
Auf der Südseite der Halbinsel finden wir Sandstrände, an denen wir ausgedehnte Spaziergänge unternehmen. Hier gibt es besonders viele alte Friedhöfe, wir besuchen die Friedhöfe Doly Apa, Kendi Baba und Maja Korimi. Die Grabsteine und Mausoleen sind zum Teil aus dem zehnten Jahrhundert. Diese Friedhöfe liegen überall in der Steppe verstreut.
Neben den historischen Friedhöfen gibt es auch noch mehrere Kultstätten, von denen wir Schakpak-Ata, Sultan-Epe, Schopan-Ata und Beket-Ata besuchen. Diese Kultstätten werden auch unterirdische Moscheen genannt, weil es dort Höhlen gibt, in die sich früher Sufis zurückzogen, um dort zu beten und zu meditieren. Nach Beket-Ata reisen besonders viele Pilger, denn der Heilige, der hier in der Meditationshöhle begraben liegt, war kasachischer Abstammung und vielseitig gelehrt. Ihm werde noch heute Wunderheilungen zugeschrieben. Die Menschen besuchen die Pilgerstätten, um durch Opfergaben und Gebete Wünsche erfüllen zu lassen oder um Heilung zu bitten.
An einem Sonntag – entgegen muslimischer Tradition auch in Kasachstan Ruhe- und Feiertag – erleben wir den Pilgerstrom und können an den rituellen Zeremonien teilnehmen. Schon am Morgen füllt sich der Parkplatz vor der Pilgerunterkunft. Wir treiben mit der Menschenmenge der Meditationshöhle zu. Vor dem Eingang dieser Höhlen gibt es Opferstätten. Dort liegt meist ein Mufflongehörn und es gibt eine Brandstätte, wo die Menschen Opfergaben entzünden.
Im Inneren der Höhle sitzen Männer und Frauen getrennt, während ein Vorbeter in melodischem Singsang islamische Verse rezitiert. Die Gläubigen erheben die Hände, formen mit ihnen eine Schale und bedecken am Ende damit ihr Gesicht. Im Anschluss daran umkreisen alle einen knorrigen Saksaulstamm, an den auch vorher verteilte Stofftücher gebunden werden können. Mit diesen Stofftüchern verbunden sind die Wünsche der Pilger: Gesundheit, Glück, Kinderwunsch, Reichtum, kurz, alles was Menschen sich wünschen können kann hier symbolisch eingewickelt und abgegeben werden. Danach werden die weiteren Höhlenräume begangen, die Frauen streichen mit den Händen an den Wänden entlang und berühren dann ihr Gesicht. Auf diese Weise sollen die guten Kräfte in die Körper der Gläubigen gelangen.
Der Abend klingt in der Parkanlage des Gästehauses aus, wo man sich auf beschatteten Bänken zusammensetzt und die Stille, den aufkommenden Wind oder die Gesellschaft der Mitreisenden genießt. Es berührt uns sehr, wie höflich und freundlich alle hier zu uns sind. Wir werden nach dem Woher und Wohin gefragt, aber niemand fragt nach unserer Konfession. Es erscheint ganz natürlich, dass auch wir als Pilger hierhergekommen sind. Und so werden wir ein Teil des Ganzen.
Am nächsten Tag müssen wir Abschied nehmen, und um Mangyschlak zu verlassen, wählen wir einen Weg von 210 Kilometern Luftlinie bis zur nächsten Ortschaft Beynew, die wir nur auf Pistenspuren in der Steppe zurücklegen. Inzwischen sind wir mit der Navigation durch das GPS so vertraut, dass wir dieses Erlebnis ohne Zögern eingehen, und wir werden mit wunderbaren Erlebnissen und Eindrücken von dieser einsamen Welt belohnt.