Keine Ohrringe, keine Ringe. Die filigrane Silberkette um meinen Hals hat zum Glück keiner bemerkt. Ach ja, bequeme Schuhe und eine Hose, die man bei 60 Grad waschen kann. Einen grünen Kittel bekomme ich überreicht, als ich um 6.30 Uhr meinen Dienst im Seniorenzentrum Wilhelm-Löhe-Haus antrete.
In der Zeit bis 10.30 Uhr ist Grundpflege angesagt. Darunter fällt Zähneputzen und auch das Waschen und Anziehen der Bewohner, die dies nicht mehr allein bewältigen können. Pflegedienstleitung Katharina Miller nimmt mich mit in den dritten Stock, und wir beginnen im Zimmer von Hella Kistner. Die 71-Jährige lächelt und gibt Handzeichen. Sie leidet an Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), einer nicht heilbaren Erkrankung des motorischen Nervensystems. Weil ihr Schluckreflex nicht mehr richtig funktioniert, wird Kistner über eine Magensonde ernährt. Auch ihre Sprachfähigkeit ist eingeschränkt. Dennoch strahlt sie eine positive Energie aus, die ansteckend wirkt.
Verständigung mit Handzeichen
Wieder gibt sie ein Handzeichen und zwickt Miller freundlich in die Seite. „Ja ja,wir verstehen uns schon“, sagt Miller und lacht zurück, während sie das Bett nach oben fährt. „Das ist für ein rückenschonendens Arbeiten wichtig, denn unsere Arbeit ist körperlich sehr anstrengend.“ Sie lässt warmes Wasser in eine Waschschüssel ein, zieht der Seniorin ihr Nachthemd über die Ohren und bedeckt sie mit einem Handtuch.
„Das ist übrigens für einen Tag unsere Praktikantin“, stellt die 27-Jährige mich vor. Gleich werde ich ins Gespräch einbezogen. Wenn die Zeichen mit der Hand nicht ausreichen, muss eben der Notizblock her. Auch auf WhatsApp ist die 71-Jährige unterwegs.
Ich bekomme Fotos gezeigt, erfahre von den Töchtern der Seniorin und ihrem Lebenspartner, der sie täglich besucht. Auch, dass sie mal 60 Kilo mehr wog. „Sie sehen jetzt ganz toll aus“, sage ich ihr und meine es so. Dann darf ich sogar selbst Hand anlegen und Nacken, Arme und Achseln der Frau waschen. Eine neue Erfahrung für mich, aber definitiv keine Überwindung. Kistner grinst mich an – Daumen hoch.
Dass man sich schnell an die Bewohner – besonders die netten – gewöhnt, bestätigt mir die Pflegedienstleitung. „Man gewinnt die alten Menschen richtig lieb, und es ist traurig, wenn jemand stirbt.“ Als Ritual reiße sie im Falle des Todes das Fenster auf, „damit die Seele entschwinden kann“, erzählt Miller. Der Kreislauf des Lebens wird mir noch deutlicher vor Augen geführt, als wir das Zimmer nebenan betreten. Dort liegt eine alte Dame in Embryo-Stellung in ihrem Bett, die Augen geöffnet, der Blick teilnahmslos auf die Wand gerichtet. „Hallo, aufstehen“, sagt Miller mit liebevoller Stimme.
Versuch, ein Lächeln zu entlocken
Die Seniorin ist dement. Als ich sie aber nach ihrem Geburtsjahrgang frage, kommt wie aus der Pistole geschossen die Antwort: 1936. Ich rede mit ihr, versuche ihr ein Lächeln zu entlocken. Gleich gibt es Frühstück. Doch zuvor darf ich der 81-Jährigen noch beim Waschen und Ankleiden helfen. Dann fahre ich sie im Rollstuhl in den Speisesaal. Die anderen warten schon.
Jetzt darf ich beim Frühstück zur Hand gehen. Da das Wort „füttern“ für ältere Menschen wohl unpassend scheint, wird hierbei von „Essen eingeben“ gesprochen. Klingt das wirklich besser? Ich denke nicht weiter drüber nach und widme mich lieber einem 87-Jährigen. Er ist ein großer Erzähler. Während ich versuche ihm das Marmeladenbrot in kleinen, mundgerechten Stückchen mit einer Gabel in den Mund zu schieben, erzählt und erzählt er. Vieles ist unverständlich, aber intuitiv gebe ich ihm das Gefühl, ich wüsste genau was er meint, sage „Ah“ und „Oh“. Warum soll ich ihm nicht die Freude lassen zu erzählen?
Und siehe da: Nach einer guten halben Stunde ist alles aufgegessen, das Brot und die Schüssel mit Apfelmus. Die Beschäftigung mit den alten Menschen beginnt richtig Spaß zu machen, und mir wird bewusst, wie wichtig sie ist. Umso trauriger, dass Pflegeberufe in der Regel so unterbezahlt sind. Bei der Diakonie, bei der das Wilhelm-Löhe-Haus angesiedelt ist, sei es zumindest besser als in manch anderer Einrichtung, so Miller. Wie wichtig es ist die Senioren zum Trinken zu animieren, erfahre ich auch im zweiten Stock, wo nun Freizeitgestaltung auf dem Plan steht.
„Die alten Menschen haben oft von sich aus keinen Durst und man muss hinterher sein, dass sie genügend trinken“, sagt Betreuerin Elisabeth Rückert. Darum hat sie auch Tee und Wasser vorbereitet.
Heute steht Kräuterkunde auf dem Plan
Neben Bewegungsangeboten, Spielenachmittagen, Gottesdiensten und Gedächtnistraining gibt es hier auch mal ein spezielles Thema, das spielerisch bearbeitet wird. So steht heute Kräuterkunde auf dem Plan. Die Senioren sitzen im Kreis (viele im Rollstuhl), in der Mitte sind Kräuter auf einem Tisch aufgebaut. Pfefferminze, Petersilie, Schnittlauch, Rosmarin und Liebstöckl sind einige der feinen Kräuter, die es an Aussehen und Geruch zu erraten gilt. Bei der Minze und dem Rosmarin ist es einfach, schwieriger der Liebstöckl.
„Mhm, das riecht gut“, sagt Margarete Schulz über den Rosmarin. Schulz, man kann es kaum glauben, ist 101 Jahre alt. Als 80-Jährige würde sie locker durchgehen. Wahnsinn, wie gut sie sich gehalten hat, denke ich. Und fit im Kopf ist sie auch noch und singt gern, besonders „Der Mai ist gekommen“.
Bevor endlich der von Frei selbst gemachte Kräuterquark probiert werden darf, bin ich an der Reihe und lese das Gedicht „Quer durch den Garten“ (Rodrian) vor. In den Gesichtern der alten Menschen blitzt es hier und da auf. Vielleicht kommen Erinnerungen an den eigenen Garten auf, den man einst bepflanzte. Eine schöne und traurige Vorstellung zugleich. „Sehr schön vorgetragen“, sagt eine Seniorin und ich freue mich über das Lob.
Es ist jetzt fast halb zwölf Uhr mittags und weiter geht es für mich in den Bereich der Tagespflege. Denn das Wilhelm-Löhe-Haus bietet neben 138 Plätzen im Pflegebereich auch 20 Plätze in der Tagespflege sowie zehn Seniorenwohnungen. „Die Senioren der Tagespflege kommen am Morgen hierher und fahren gegen Spätnachmittag wieder nach Hause“, erklärt der Leiter des Hauses, Matthias Matlachowski. Zuhause, das kann je nach Fitness das eigene Zuhause sein oder das Zimmer bei Kindern oder Verwandten.
Die Begrüßung ist erst mal schwierig. Ein Tagesbewohner beschwert sich über mich als Neuzugang. „Die von der Presse soll weg, was will die hier?“ Ich muss schlucken, für einen Moment lang wünsche ich mich nichts wie weg von diesem Ort. Wie viel Kinder und alte Menschen doch gemeinsam haben. Sie sagen unverfroren das, was sie denken – ohne Rücksicht auf Verluste. Da ist er wieder der Kreislauf des Lebens. Ich schaue mir den alten Menschen an, irgendwie wirkt er verbittert und tut mir nun fast ein bisschen leid.
Mit Elan bei den Atemübungen dabei
Auf dem Speiseplan stehen Kaiserschmarrn mit Apfelbrei und Buletten mit Kartoffelbrei und Gemüse zur Auswahl. Nach dem Essen darf ich noch eine Atemübung anleiten, wobei mir meine Ausbildung als Yogalehrerin zugute kommt. „Einatmen, Arme nach oben heben, Ausatmen, wieder senken.“ Es überrascht mich, mit wieviel Elan die Senioren bei der Sache sind. Dann ist eine Ruhepause angesagt, die Marie Lindner nutzt, um aus ihrem eigens geschriebenen Gedichtband in Mundart „Wo dä Mee sich grümmt zum Dreiegg“ vorzulesen. Die 91-Jährige ist wie sie selbst sagt „eine waschechte Schweinfurterin“ und geht nun völlig in ihrer kleinen Lesung auf.
„Es ist so schön zu sehen, wie sich die alten Menschen freuen können. Ich habe es noch keinen Tag bereut, diesen Beruf gewählt zu haben“, sagt die Leiterin der Tagespflege, Cornelia Beck.
Meine Schicht neigt sich dem Ende, mit Eindrücken voll bepackt fahre ich in die Redaktion unserer Zeitung. Ich kann mir vorstellen, wiederzukommen zu den Senioren, vielleicht ehrenamtlich zum Vorlesen, Plaudern oder Atemübung anleiten.
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