Da steht der 87-jährige Naftali Fürst vor dem Chorraum der alten Kirche und es kommen ihm die Tränen. Die Realschüler haben sich erhoben und applaudieren anhaltend. Sie würdigen damit einen Mann, der sich der Herausforderung gestellt hat,von seiner Kindheit und Jugend in vier Konzentrationslagern zu erzählen und sich ihren Fragen zu stellen. "Entschuldigen sie, dass ich hier versuche Worte zu finden, wofür es eigentlich keine Worte gibt", sagt er. Es war eine Erinnerungskultur die die Herzen erreichte und den historischen Gräuel ein menschliches Antlitz entgegenstellte.
Es sind nicht mehr viele, die als Zeitzeugen vom Leben in den KZ berichten können, und die meisten von ihnen haben wie Fürst jahrzehntelang geschwiegen. Erst 2005 betrat er den Ort wieder, den er nie mehr betreten wollte, das KZ Buchenwald. Der 60. Jahrestag der Befreiung wurde gefeiert, und Fürst traf Leidensgenossen aus dem Kinderblock 66 wieder. Nach 60 Jahren sprach er das erste Mal wieder deutsch, und seitdem erzählt er.
Die Schonunger Realschüler waren gut vorbereitet, an Stellwänden präsentierten sie, wie sie sich mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinandergesetzt haben. Mit dem gekürzten Dokumentarfilm "Kinderblock 66" wurden sie auf die Realität der Zeit eingestimmt.
In den Viehwaggons sind die Menschen reihenweise erforen
Naftali Fürst kam 1932 in Bratislava zur Welt. Seine glückliche Kindheit endete 1939 mit der Ausgrenzung des Slowakischen Staates für die Juden. 1942 siedelte die Familie ins Arbeits-und spätere Konzentrationslager Sered um. Im November 1944 wurde die Familie nach Auschwitz deportiert und getrennt. Nur die Brüder bleiben beieinander. Im Januar 1945 wurde Fürst dann auf den "Todesmarsch" nach Buchenwald geschickt. "Es war schrecklich", erzählt er. In den Viehwaggons seien die Menschen reihenweise erfroren. Die Leichen wurden aus dem Abteil geworfen. Nach dem Todesmarsch durch Eis und Schnee, kamen die Brüder in Buchenwald an. Naftali war sterbenskrank und es gehört wohl zu den Wundern seines Lebens, dass er Buchenwald überlebt hat. 100 000 Juden und politische Häftlinge waren hier eingepfercht, über 1000 Kinder im Kinderblock. "Einige der politischen Häftlinge hatte noch eine Art Ethik und wollten den Kindern helfen", erzählt Fürst. Deshalb sei im Kinderblock das Leben ein bisschen besser gewesen.
Wie sein Alltag im KZ war, wollen die Schüler wissen. "Schlecht und lang", antwortet er. Besonders der Hunger habe den Kindern zugesetzt. "Wir waren schmutzig, haben uns nie gewaschen, hatten kein Klopapier und vor allem nie gewusst, was uns morgen erwartet." Viele hätten aufgegeben, seien nie mehr aufgestanden. "Man kann sich nicht vorstellen, was wir durchgemacht haben." Ob er jemals an Selbsttötung gedacht hat, fragen die Schüler. Er habe gesehen wie Menschen in den Zaun gegangen und innerhalb von Sekunden verbrannt seien, erzählt Fürst, "wir waren sehr verzweifelt".
"Wollen Sie das alles nicht lieber vergessen", fragt ein Schüler. "Ich wollte, ich könnte das vergessen", antwortet Fürst, so etwas könne man nicht vergessen. "Aber ich lebe nicht in der Schoa", betont er, "ich habe mir ein neues Leben aufgebaut." Seine Lebensgefährtin Toba Wagmann-Siegel bestätigt das. Für sie ist er ein "Held", der trotz allem immer nach vorne blicke.
Naftali Fürst: "Fanatismus bringt die Leute um den Verstand."
Und dann kommt die Frage, wie er sich denn fühle, wenn heute immer mehr Gruppierungen den Holocaust leugnen. "Je mehr ich erzähle, umso mehr Faschisten kommen auf", bedauert Fürst und betont: "Fanatismus bringt die Leute um den Verstand."
Seine Botschaft für die Schüler ist denkbar einfach. "Gute Leute dürfen nicht schweigen", sagt er. Damals hätten zu viele geschwiegen und weggesehen. Und er rät ihnen, einfach Mensch zu sein und menschlich mit anderen umzugehen."
Wie diese Erfahrung sein Leben verändert hat, zeigt das Gedicht, das er den Jugendlichen am Ende mitgibt. Er sehe das Leben jetzt mit anderen Augen, manchmal wenn er sich unter seine weiche Decke kuschelt, dann komme aber die Erinnerung: "Nächte voller Leid, Kälte und Feuchtigkeit. Ich habe kein Kissen, die Decke ist dünn, die Decke ist kurz, die Decke stinkt. Die Menschen um mich herum leiden, stöhnen weinen, einschlafen können sie nicht.