Etwa 90 Jahre ist es her, dass das Fahrrad die Werkhallen des renommierten Herstellers Wanderer in Chemnitz verlassen hat. Doch das für einen Drahtesel außergewöhnlich hohe Alter sieht man ihm beileibe nicht an. Blitzblank geputzt ist der Rahmen. Es blitzt das Chrom der Lenkstange und – als besonderer Blickfang – die Karbidlampe, die vorne unterhalb des Lenkers hängt. Dass das Fahrrad so piekfein dasteht im Schaufenster des früheren Verkaufsraums der Schreinerei Hacker in der Marktstraße in Gerolzhofen, hat es einem Mann zu verdanken: Carmine Tantaro.
Das Restaurieren historischer Räder zählt der 47-jährige Gerolzhöfer zu seinen großen Leidenschaften. Wie ihn überhaupt, schon seit der Zeit, als er noch ein Junge war, alles fasziniert, was sich dreht und bewegt. Wenn es da irgendwo hakt, lässt er nicht locker, bis er weiß, woran es liegt und bis er es wieder zum Laufen gebracht hat. So beschreibt er sich selbst.
"Er ist ein genialer Schrauber." So beschreibt ihn Matthias Braun (52). Der Gerolzhöfer teilt mit seinem Bekannten Tantaro die Freude am Herumbasteln an alten Fahrzeugen. Gemeinsam haben sie schon unzählige Stunden in der Werkstatt verbracht. Aktuell steht dort ein halb fertiger VW-Käfer, der im gleichen Jahr vom Band lief, als die Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde, im Jahr 1949.
"Wir pflegen eine Anti-Wegwerf-Mentalität"
Ihre Vorliebe fürs "Reparieren alter Sachen", wie sie es zusammenfassend bezeichnen, passt für sie auch zu ihrer Lebensphilosophie. Fahrzeuge oder Maschinen, ganz gleich, welcher Art, gleich zu entsorgen und durch etwas Neues zu ersetzen, sobald sie ihren Sinn und Zweck nicht mehr hundertprozentig erfüllen, das kommt für sie nicht infrage. "Wir pflegen eine Anti-Wegwerf-Mentalität", sagt Braun, der davon überzeugt ist, dass es der Welt insgesamt gut täte, wenn mehr Menschen in unserer Gesellschaft diesem Motto folgen würden.
Doch zurück zu dem Wanderer-Rad, das Teil der kleinen Schaufenster-Ausstellung ist, zu der neben einem zweiten Rad aus den 1930er Jahren noch eine Auswahl an Annoncen und Plakaten früherer, längst verschwundener Fahrradhändler und -werkstätten in Gerolzhofen zählt. Die Ausstellung, die Bertram Schulz vom Gerolzhöfer Stadtmuseum zusammengestellt hat, verdeutlicht eines: Fahrräder haben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Boom erlebt. Damit passt das Thema gut ins Jetzt und Heute, denn aktuell sind Räder – nicht zuletzt wegen der Corona-Pandemie und dem Vormarsch des Elektroantriebs – so verbreitet sind wie lange nicht mehr.
"Fahrräder laufen immer", stellt Tantaro mit Blick auf die Erfolgsgeschichte dieses Massenfortbewegungsmittels fest. Er selbst verbindet seine ersten eigenen Zweiraderfahrungen mit sogenannten Bonanza-Rädern, dann kamen BMX-Räder hinzu, später Mofas. "Mein Opa Albin Schulz soll bereits als junger Mann einen heißen Reifen gefahren haben. Vielleicht haben sich dessen Gene ja auf mich vererbt", sagt Tantaro und lacht.
Fahrräder sind relativ einfach zu reparieren
In seiner Brust schlägt aber eben nicht nur das Herz des aktiven Radfahrers, sondern auch das des Tüftlers und Bastlers. Und gerade deshalb üben Fahrräder auf ihn auch – neben allen anderen Fahrzeugen – einen besonders großen Reiz aus. Denn die Zweiräder sind vergleichsweise einfach zu reparieren.
Doch mit "einfach irgendwie zusammenflicken" ist es bei ihm natürlich nicht getan. Wenn der Gerolzhöfer sich eines Drahtesels annimmt, dann ist er bestrebt, diesen möglichst originalgetreu wieder herzurichten. Die alten Räder findet er teilweise über Inserate und kauft sie an. Teilweise sieht er sie aber auch als Sperrmüll irgendwo stehen, und erhält auf diese Weise auch fast unbezahlbare Ersatzteile, denn die sind mitunter extrem rar, weil vieles längst nicht mehr produziert wird, wie die Karbidlampe des ausgestellten Rads.
In den 70er und 80er Jahren, sagt Tantaro, sind viele der noch erhalten gebliebenen Fahrräder aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, oder gar aus der Zeit davor, "verbaut worden". Mit "verbaut" meint er: Die Räder haben beispielsweise Dynamos und damit elektrische Leuchten erhalten, oder neue Sattel und Lenkergriffe.
Der gelernte Kfz-Mechaniker hat ein immenses Fachwissen
Wo immer es möglich ist – und die Ersatzteil-Lage es erlaubt – entfernt Tantaro diese Anbauten und ersetzt sie wieder durch Originalteile. Hierzu informiert er sich zusätzlich in alten Zeitschriften für Oldtimer-Bastler. Auf diese Weise hat der gelernte Kfz-Mechaniker, der seit 27 Jahren in der Schmiede eines Schweinfurter Industrieunternehmens arbeitet, sich zwischenzeitlich ein beachtliches Fachwissen angeeignet. Und er erkennt Details, die ein Laie, für den "ein Rad ein Rad ist", niemals sehen würde.
Er nennt ein Beispiel und zeigt ein Foto. Es ist die Detailaufnahme einer Fahrradnabe. Kaum sichtbar ist darauf eine feine Gravur zu sehen. "F & S" steht dort ins Metall geschrieben – eine Nabe von Fichtel und Sachs also. Daraus leitet der Fachmann das Baujahr des Fahrrads ab, oder grenzt zumindest den Herstellungszeitraum eng ein. In diesem Fall war das Rad über 100 Jahre alt und stammte von 1915. Ein Glücksfall für jeden Sammler und Restaurator.
Braun und Tantaro, die sich als Werkler und Schrauber gegenseitig befeuern, wie sie sagen, sind sich darin einig, dass es nicht das Ziel sein dürfe, alte Fahrräder sowie Oldtimer aller Art, möglichst in einen vermeintlich fabrikneuen Zustand zurückzuversetzen. Der Trend in der Oldtimer-Szene gehe dahin, den Fahrzeugen ihre Gebrauchsspuren zu lassen und deren Patina zu erhalten. Die vorhandenen Bauteile sollen jedoch tipptopp aufbereitet, gesäubert und wieder funktionstüchtig gemacht werden. Dies alles verschlingt eine Unmenge Zeit, wenn man es ordentlich macht, berichtet Tantaro. Mit den Felgen eines Rads zum Beispiel beschäftigt er sich mitunter zwei Wochen.
Fahrräder tragen zeitgemäße Accessoires
"Manche Räder werden so am Ende zu einem Kunstwerk", sagt er, ohne damit zu prahlen. Da passt dann in seinen Augen auch jedes noch so kleine Detail. Ein Beispiel für ein solches Kunstwerk ist im Schaufenster in der Marktstraße, das Schreiner Bernhard Hacker kostenfrei bereitgestellt hat, zu bewundern. Bis hin zur erneuerten Holzoptik der Felgen passt alles in diesem Fall. Selbst an zeitgemäße Accessoires wurde gedacht, wie das "Hebammenköfferchen" auf dem Gepäckträger oder das Netz am Schutzblech des Hinterreifens, das verhinderte, dass sich der Rock der Dame in den Speichen verfing.
Langweilig oder eintönig wird es Tantaro bei seinem Hobby nicht. Zumal den Fahrrädern nur ein Teil seiner Leidenschaft gehört. Ebenfalls in der Marktstraße, im ebenfalls leerstehenden Schaufenster des früheren Optiker- und Uhrengeschäfts Weisenseel steht ein Teil seiner Sammlung historischer Spielzeug-Dampfmaschinen, ebenfalls liebevoll restauriert.
Gerne wäre Tantaro mit Unterstützung von Braun bereit, immer wieder mal einen Teil seines Fundus in sonst leerstehenden Schaufenstern zu zeigen. Er würde seine Werke aber auch Geschäftsleuten zum Dekorieren von deren Auslagen leihen.