Der Weißclown kommt als erster. Anderthalb Stunden vor Vorstellungsbeginn übt er unter der Tribüne Dreiklänge auf der Trompete. Dann muss er los, sich schminken. Bis aus dem freundlichen Yann Rossi der würdevolle, unnahbare Harlekin mit dem weißen Gesicht, den roten Nasenlöchern und Ohren und den schwarzen Augenbrauen wird, vergeht eine Dreiviertelstunde. Das teure Glitzerkostüm hängt schon neben dem Eingang zur Manege – im Kleidersack, damit der allgegenwärtige Staub ihm nichts anhaben kann.
Yann Rossi ist einer der berühmtesten Weißclowns. Und einer der letzten. Hundert Jahre gehörte das Gespann Weißclown und Dummer August zu jedem Zirkus, heute wollen das kaum noch junge Leute werden. Vielleicht, weil es harte Arbeit und sehr viel Training erfordert, vielleicht auch, weil es in Zeiten multimedialer Überfütterung immer schwieriger wird, Menschen zum Lachen zu bringen. „Man muss sich immer wieder Neues einfallen lassen, um das Publikum zu überraschen“, sagt Yann Rossi. Mit seinem Bruder Hector und seinem Neffen Pierre tritt er derzeit beim Circus Krone auf. Les Rossyann haben keinerlei Mühe, ihr Publikum zum Lachen zu bringen. Ihre einfallsreichen Musiknummern sitzen ebenso wie ihr Timing. Und wer erlebt, wie sie den Gefangenenchor aus Nabucco astrein auf zwei Luftpumpen spielen, der beginnt zu ahnen, warum penible Vorbereitung für Yann Rossi so wichtig ist.
Gleich nebenan turnen sich die Anastasini Brothers warm. Fabio und Giuliano Anastasini sind Ikarier. Der Name leitet sich von Ikarus her, hat also etwas mit Fliegen, aber auch mit Herunterfallen zu tun. Der 23-jährige Giuliano liegt auf dem Rücken und schleudert seinen 15-jährigen Bruder Fabio mit den Füßen in die Luft und fängt ihn wieder auf – eine der strapaziösesten Formen der Körperkunst. Die beiden gehen deshalb täglich in den Kraftraum. Und wenn in der Vorstellung etwas nicht klappt, wird nachts nachtrainiert.
Vermutlich stellen sich die meisten Menschen die Abläufe hinter den Kulissen beim Zirkus falsch vor: laut, hektisch, angespannt. Beim Circus Krone jedenfalls schreit niemand „allez, allez, allez“. Es fällt überhaupt kaum je ein lautes Wort. Nikolai Tovarich ist der Ringmaster. Beim Theater würde man ihn Inspizient nennen. Dem Blick seiner hellblauen Augen entgeht nichts, ansonsten scheint seine bloße Präsenz auszureichen, dass jeder bestmögliche Arbeit abliefert. Die Vorstellung beginnt mit dem großen Opening, bei dem sich alle Artisten im Kostüm präsentieren. Die weitere Abläufe sind minutiös durchgeplant. Eine Regel lautet, dass sich immer die Nummer bereit machen muss, die als übernächste dran ist. Jeder weiß, was er wann zu tun hat. Das gilt für die Tierpfleger, die Hengste, Elefanten oder Kamele rechtzeitig vorführen müssen. Das gilt für die Artisten, Tänzer und die Requisiteure in den schwarzen Overalls, die permanent Podeste raus und reinrollen, Pferdeäpfel beseitigen, Geräte auf- und abbauen müssen.
„Die Zeit beim Zirkus ist eine musikalische“, sagt Susanne Matzenau, Pressesprecherin beim Circus Krone. Die Vorstellung beginnt auf die Minute pünktlich, aber den weiteren Verlauf bestimmt die Musik. „Man weiß ja nie, ob einer noch eine Ehrenrunde dreht. Da hilft es nichts, auf die Uhr zu schauen.“
Tsavo, der 3,5-Tonnen-Nashorn-Bulle, der sein Gehege gleich neben dem Eingang zur Manege hat, weiß, dass er gleich dran ist, wenn er die Musik der Löwennummer hört. Dann tappt er schon mal in Richtung Ausgang, und dann dauert es auch nicht mehr lange, bis Martin Lacey zu ihm kommt, nachdem er seine Löwen wieder in ihre Gehege gebracht hat. Als Lacey dann kommt, das Handy noch am Ohr, ruft er seinem Nashorn schon von weitem „good boy, look how beautiful you are“ zu. Dann wirft er das Handy einem Assistenten zu, klopft Tsavo auf den Rücken, und die beiden ziehen einträchtig los Richtung Manege.
Zu den vielen Fertigkeiten, die Zirkuskünstler brauchen, gehört auch die, sich möglichst schnell umzuziehen. Die Tänzerin, die gerade noch in Tanktop und Schlabbershorts vorbeigehuscht ist, ist gefühlte 20 Sekunden später in vollem Kostüm, mit Kopfputz und Wimpern wie Vogelspinnenbeine wieder da. Jana Mandana, Juniorchefin und Herrin über Pferde, Elefanten, Zebras, Kamele und Lamas, hat zwischen zwei Nummern einmal ganze 90 Sekunden, um das Kostüm zu wechseln. Sie tut es hinter einem Paravent gleich an der Rückseite der Showtreppe.
Ansonsten zieht sie sich im Garderobenwagen der Direktion um, der gleich am Sattelgang steht und traditionell die Nummer 66 hat. Etwas weiter weg steht die Garderobe der Damen des Balletts mit der Nummer 92, schräg gegenüber die der Junggesellen mit der Nummer 31. „Früher hat man immer gesagt, die 31 hat nichts verloren in der 92. Das wird heute nicht mehr ganz so streng gehandhabt“, sagt Susanne Matzenau.
Ein paar alte Regeln gelten allerdings noch. Tugenden wie Disziplin, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit sind beim Zirkus unerlässlich. Ebenso wie Toleranz und Freundlichkeit. Schließlich leben und arbeiten 400 Menschen aus 14 Nationen monatelang auf ziemlich engem Raum zusammen. Selbst die coolsten Artisten erwidern deshalb vor ihren halsbrecherischen Auftritten das respektvolle „Mahlzeit“ der Requisiteure lächelnd und herzlich. „Nur Fußball-WM oder -EM sind für uns eine Krise“, sagt Matzenau. „Letztes Mal ist die spanische Flagge immer größer geworden, und die englische von Martin Lacey – naja. . .“
Alle Tiere haben in großzügigen Gehegen oder Boxen die Wahl zwischen drinnen und draußen. Das gilt auch für Keiler Fritzi, der vor vier Jahren für vier Wochen im Schweinfurter Wildpark lebte. Der Amtstierarzt hatte gesagt, ein Wildschwein müsse in einer Rotte leben, also gab der Circus Krone ihn ab. Im Wildpark traf Fritzi allerdings auf einen ortsansässigen Keiler, der über den Neuzugang alles andere als erfreut war. „Nach vier Wochen rief der Tierarzt an und sagte, holt ihn wieder ab, beim Zirkus ist er glücklicher“, erzählt Susanne Matzenau.
Die Elefanten sind übrigens durchaus nicht angekettet. Man könnte höchstens sagen, dass sie ein wenig Pech mit ihren Nachbarn haben, denn gleich nebenan wohnen die Seelöwen, die ganz gerne mal – wie in freier Wildbahn auch – ganz schön Rabatz machen. Das ist den Elefanten dieser Tage wohl so auf die Nerven gegangen, dass sie mit dem Rüssel Äste und Stroh in Richtung der Seelöwen geschmissen haben.
Die letzten Vorstellungen des Schweinfurter Gastspiels des Circus Krone finden am heutigen Dienstag und am Mittwoch jeweils um 15.30 und um 20 Uhr statt. Karten: Tel. (0 18 05) 24 72 87.