Seit gut einem Jahr liefert der junge Mann in fester Regelmäßigkeit bei der Bahnhofsmission frisches Brot und Dosenwurst ab. Susanne Brand hat den „Anfang 30-Jährigen“ erst kürzlich mal wieder gefragt, warum er Lebensmittel spendet. „Wer sind Sie?“ Seine Antwort war ein freundliches Lächeln und er ging wieder seines Wegs. „Der Großteil der Menschen, die uns Lebensmittel, Kleider und auch mal einen Geldbetrag vorbeibringen, sind sehr bescheidene Leute“, sagt Susanne Brand.
Die erste Bahnhofsmission wurde 1894 in Berlin gegründet. Deutschlandweit sind es heute über 100. Träger der 1926 ins Leben gerufenen Schweinfurter Bahnhofsmission sind der katholische Verein In Via Würzburg und das Diakonische Werk Schweinfurt. Susanne Brand ist beim Verein angestellt. Ingeborg Götz bei der Diakonie. Beide leiten gleichberechtigt die so segensreiche Einrichtung im hinteren Winkel des Schweinfurter Hauptbahnhofs.
Sie sind im Wechsel zu den Öffnungszeiten werktags von 8 bis 12 und 12 bis 16 Uhr vor Ort. Auch ihre beiden Vertreter sind angestellt. Große Stütze sind die derzeit zehn Ehrenamtlichen, sieben Frauen, drei Männer. „Ohne sie ginge es gar nicht“, sagt Ingeborg Götz.
Es klopft am Fenster der Bahnhofsmission. Andreas. Einer der rund 25 Stammgäste. Der gelernte Bankkaufmann verlor irgendwann den Halt, wurde obdachlos. Er lebt schon lange von Hartz IV, hat aber heute zumindest ein Dach überm Kopf. Die Kaffeemaschine läuft schon – wie immer. Andreas, 56, nimmt die Tasse Kaffee dankbar entgegen, macht es sich auf der Eckbank bequem, greift zum Schweinfurter Tagblatt und liest. Reden will er heute nicht.
Wegen Corona – Maske ist Pflicht – muss er nach einer halben Stunde wieder gehen, Platz machen für den oder die nächste(n). Macht er auch. Er fragt noch nach einer Brotzeit. Ingeborg Götz schmiert ihm ein Wurstbrot. „Wer kommt, ist willkommen, bei der Bahnhofsmission wird niemand abgewiesen“, betonen die Frauen. Durchschnittlich 30 Gäste betreuen sie am Tag, im Winter sind es mehr. „Wir geben den Menschen Struktur, viele sind vereinsamt und können sonst mit niemandem sprechen“, sagt Ingeborg Götz. „Gerade in diesen Pandemiezeiten hat sich das deutlich verstärkt“, ergänzt Susanne Brand. Was ist ihre wichtigste Aufgabe? „Zuhören“, sagen beide. Fragen stellen sie keine, nicht nach dem Alter, der Herkunft, dem Grund für das Abdriften. Das Publikum der Bahnhofsmission ist bunt gemischt. Obdachlose, Wohnungslose, sozial Schwache, Sozialhilfeempfänger. „Hilfebedürftige, die von der Gesellschaft nicht wahrgenommen oder systematisch vertrieben werden, leider auch in Schweinfurt“, sagt Susanne Brand. „Viele wollen einfach nur ihr Herz ausschütten“, schildert Ingeborg Götz. So wie kürzlich eine Wohnsitzlose, auch sie Stammgast. Sie kommt regelmäßig, seit elf Jahren, „meist um zu schimpfen“, also Dampf abzulassen. Vor wenigen Tagen hat die 60-Jährige erstmals ausführlich über ihr Leben, oder besser das, was schiefging in ihrem Leben, berichtet. „Das hat mich gerührt“, sagt Susanne Brand.
Brand ist gelernte Floristin, wollte mal was anderes machen. Das andere war 2010 die Bahnhofsmission. Schon 16 Jahre ist Ingeborg Götz dabei, gelernte Bürokauffrau. Sie fing als Ehrenamtliche an, seit acht Jahren ist sie Leiterin. „Es hat mich nicht mehr losgelassen.“ sagt sie. Lächelnd reicht sie dem nächsten wohnungslosen Stammgast den Kaffee und die Tageszeitung. Man kennt sich über die Jahre und vertraut einander. Doch die Bahnhofsmission ist Hilfe bei vielen alltäglichen Dingen. Zum Beispiel ein Behördenschreiben ausfüllen oder ein Formular ausdrucken oder im Internet nach irgendetwas Notwendigem schauen. Wenn der Computer mal streikt, dann greift den „Chefinnen“ einer der Ehrenamtlichen unter die Arme, ein Lehrer. Klaus Rottmann ist noch in Amt und Würden, er hilft auf diese Art und Weise.
Im hinteren Teil der Anlaufstelle ist ein kleines Kleiderlager, alles gespendet. Erst kürzlich fragte ein Wohnsitzloser nach Ersatz für seine arg in Mitleidenschaft gezogene Winterjacke. Im Kleiderlager wurde man fündig. Ein Durchreisender dankte für den neuen Schlafsack. Die Bahnhofsmission bietet auch eine mobile Reisebegleitung an. Auch Hilfestellung bei Aus- und Einstieg am Bahnsteig oder Auskünfte für Reisende gehören dazu. Das ist der Job der ehrenamtlichen Kollegen, die viel an den Wochenenden tätig sind. Wegen der Pandemiesituation können sie momentan nicht oder nur bedingt eingesetzt werden. Einige der zehn Ehrenamtlichen sind noch berufstätig, andere schon im Ruhestand, wie die Pfarrerin Elke Münster oder Rudolf Steiche. Er opfert viel Freizeit als Reisebegleiter.
Mobile Reisebegleitung
Als Beispiel erzählt er über die Begleitung einer blinden Seniorin aus Haßfurt. Alle paar Wochen besucht sie ihre ältere Schwester in Ochsenfurt. Steiche fährt dann mit dem Zug zum Bahnhof nach Haßfurt, wohin sich sein Fahrgast mit dem Taxi hat bringen lassen. Am Hauptbahnhof Würzburg steigt man um nach Ochsenfurt. Wenn sie nach ein paar Tagen bei der Schwester wieder nach Hause will, geht es in die andere Richtung wieder zurück. „Da lernt man selbst unheimlich viel“, sagt Steiche und meint zum einen die beachtliche Leistung der Frau, mit ihrem Nichts-Sehen-Können umzugehen, zum anderen die vielen Hindernisse, die im Weg sind, es aber nicht sein müssten.
Seit 2012, aufgebaut von Elmar Rachle, einem der Stellvertreter, bietet die Bahnhofsmission diesen kostenlosen Service für Menschen an, die altersbedingt oder durch ein Handicap eingeschränkt sind. Es gibt aber auch einige, „die sich alleine eine Bahnreise nicht zutrauen“, berichtet Steiche. Betreut und begleitet werden außerdem viele Kinder. Sie leben in einem Heim, sind Scheidungskinder, wollen aber am Wochenende den Vater oder die Mutter besuchen. Wie der Zwölfjährige, dem Steiche auf seiner Reise nach Leipzig bis Erfurt beistand. Die ehrenamtlichen Reisebegleiter sind an ihren blauen Jacken mit dem Emblem Bahnhofsmission erkennbar. Sie haben einen Dienstausweis dabei, für den Schaffner, weil sie für ihren Job ja nichts nicht zahlen müssen. Rudolf Steiche ist froh, dass der Hauptbahnhof in Schweinfurt umgebaut ist, es jetzt Aufzüge zu den Gleisen gibt. „Was haben wir geschleppt, Kinderwägen, Rollatoren.“ Die gewonnene Zeit nutzt er, um am Bahnsteig beim Zusteigen zu helfen, am Fahrkartenautomaten unter die Arme zu greifen. Viele überfordert die Technik. Er fragt nicht, er hat ein Gespür für Leute, die Hilfe brauchen. 2015 waren das vor allem etliche Flüchtlinge. Er schildert hier seine „spontane Entscheidung“, eine Flüchtlingsfrau nach Bamberg zu begleiten. Er sah sie hilflos und überfordert am Bahnsteig stehen. „Da habe ich sie in den Zug gesetzt und bin einfach mitgefahren.“ Warum macht er diesen Job? „Ich habe Zeit, da bietet sich so was an“, antwortet er ganz bescheiden.
Spenden sind willkommen
„Wir erwarten von unseren Gästen nichts, bekommen aber so viel von ihnen zurück“, sagt Ingeborg Götz, die sich natürlich über ein solches Dankeschön freut: „Schön, dass Sie da sind“. Und dankbar sind wiederum die vier Haupt- und zehn Ehrenamtlichen all den Menschen, die auch der Bahnhofsmission helfen. Wie der Jugendliche, der sein Taschengeld gespendet hat. Wie die Frau, die seit Jahren an Weihnachten zehn Kilogramm selbst gebackene Plätzchen abliefert. Wie der Mann, der nach einem kürzlich ausgestrahlten Tatort mit dem Thema Obdachlosigkeit ganz spontan einen größeren Geldbetrag vorbeibrachte. Oder die beiden Bekleidungshäuser, die immer mal wieder Jacken und Hosen spenden. Oder die Kindertafel, die übrig gebliebene Bionade-Kästen zur Verfügung stellte.
Die Bahnhofsmission Schweinfurt ist unter Tel. (0 97 21) 85950 oder per E-Mail unter bm.sw@gmx.de erreichbar.