Was ist nur los mit den Frauen? Sie sind die besseren Schulabgänger, ihre Zahl an den Hochschulen steigt, in Führungspositionen aber sind sie stark unterrepräsentiert. Das ist heute so – und das war vor 100 Jahren genauso. Am Beispiel der Clara Immerwahr ist zu erkennen, dass sich die Zeiten zwar geändert haben, die Frauen aber dieser Veränderung noch hinterherhinken. Es hat schon Tradition, die Frauenwochen mit der Vorstellung einer besonderen Frau zu eröffnen. Heuer war es Clara Immerwahr, die erste Frau Deutschlands, die 1900 ihren Doktortitel in Chemie errang.
Die Frauenwochen sind und waren schon immer mehr als nur ein Unterhaltungsprogramm, betont die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt, Heide Wunder. Sie sollen „auch auf gesellschaftliche Situationen aufmerksam“ machen. Das ist der Coburger Autorin Sabine Friedrich meisterlich geglückt. In einer von Ludwig Paul moderierten Lesung entführte sie ihre Zuhörer in die Welt des Kaiserreichs. In eine Zeit in der Zucht und Disziplin herrschten und die Rollenbilder klar und festgeschrieben waren.
Dr. Clara Immerwahr (1870 bis 1915) hatte mit 30 Jahren ein Jahr nach der Verleihung ihres Doktortitels den Gipfel ihrer akademischen Karriere erreicht. Sie arbeitete als unbezahlte Laborassistentin ihrem Doktorvater Richard Abegg zu. Dann heiratete sie den Chemiker Fritz Haber, den sie anfangs wohl auch bei seiner Arbeit unterstützte. 1902 aber kam Sohn Hermann zur Welt und für Clara begann die festgeschriebene „Karriere“ als Hausfrau und Mutter.
Der Roman Immerwahr entstand als Prosastudie zu einem Ein-Personen-Theaterstück, das Friedrich für die Schauspielerin Anja Lenßen entwickelt hat. Die Clara des Romans steht am letzten Tag ihres Lebens am Fenster und schaut zurück, auf begrabene Träume und Talente, auf ein Leben, das nicht mehr das ihre ist, in dem sie sich das Ihre aber auch nicht erkämpfen konnte. „Clara war keine Marie Curie, sie war ein anlehnungsbedürftiger Mensch“, sagt Friedrich.
„Wie viel Clara steckt eigentlich in Sabine Friedrich“, wollte Paul wissen. „Ich fand Fritz Haber eigentlich faszinierender als Clara Immerwahr“, gesteht die Autorin. Der Nobelpreisträger der Chemie erreichte seine Berühmtheit im Ersten Weltkrieg als „Vater des Gaskriegs“. Fritz überwachte an der Westfront den ersten Einsatz von Giftgas, bei dem mehr als 5000 französische Soldaten ums Leben kamen und ungefähr 10 000 Soldaten verletzt und teilweise bleibend entstellt wurden. Als Held gefeiert und zum Hauptmann befördert kehrt er in seine Villa zurück.
Dem Tag seiner Beförderungsfeier sollte die Nacht folgen, in der sich Clara mit seiner Dienstpistole ins Herz schießt. War ihr Freitod ein heldenhafter Protest gegen den Giftgaseinsatz? Oder war er doch eher die verzweifelte Tat einer verzweifelten Frau. Friedrich warnt davor, Clara zu schnell zu einer Heldin und ihre Selbsttötung zu einem politischen Fanal hochzustilisieren. Depressionen lagen in der Familie, Clara sei mehrfach in einer Nervenheilanstalt gewesen. „Das was sie tun wollte, war ihr komplett entrissen“, sagt die Autorin und glaubt, dass der Gaskrieg, diese „Pervertierung der Wissenschaft“, ihr nur den „letzten Rest“ gegeben habe.
Eigentlich, so Friedrich beschreibe der Roman die Geschichte einer „doppelt misslungenen Emanzipation“. Clara scheitert letztendlich an ihrem Frau-Sein und Fritz an seiner Abstammung als Jude. Sowohl die Frau als auch der Jude wurden in der Wissenschaft ausgegrenzt und da half es auch wenig, dass Fritz, wie übrigens auch Clara, zum Protestantismus übergetreten war. Das Kaiserreich verweigerte sich der Moderne. „Wir waren das Schlusslicht Europas, was die Modernisierung betraf“, sagt Friedrich. Und so gibt es auf der einen Seite die an den gesellschaftlichen Zwängen psychologisch scheiternde Clara und auf der anderen Seite, den um gesellschaftliche Anerkennung ringenden Fritz, der dafür buchstäblich über Leichen geht.
Beeindruckend schildert Friedrichs Roman die Stellung der Juden in der Kaiserzeit. Zeitgenössische Zitate zeigen, dass hier bereits der Nährboden für das gelegt wird, was dann im Dritten Reich passiert. Erschreckend dabei die Parallelen zu den Parolen gegen Flüchtlinge, die heute oft zu hören sind, und das obwohl das Buch bereits 2006 erschien.
Ein eindringliches Buch und ein Abend, der zum Nachdenken einlud. Die Zeit dazu schenkte Sandro Ortloff. Bei seiner Harfenmusik konnte das Gehörte nachklingen, bedacht und verarbeitet werden. Foto: Lux