In vielen von uns steckt schon so ein kleiner, vielleicht etwas verhutzelter Spätromantiker. Zumindest im Verborgenen. Wer hat sich in seinem Leben noch nie in einem tiefen, dunklen Wald verirrt? Wer hat noch nie eine Knusperknusperknäuschen-Stimme dort aus dem Dickicht rufen hören – und nicht nur den Gralsritter Lohengrin?
Insofern ist eine Inszenierung der „Hänsel und Gretel“-Oper von Engelbert Humperdinck fast so etwas wie ein Heimspiel im deutschen Märchenwald, wenn die Geschichte auf der Bühne die Seelenverfassungen des Publikums trifft. In der Meininger Inszenierung tut sie das ohne Wenn und Aber. Regisseur Lars Wernecke, Ausstatter Helge Ullmann und die Meininger Hofkapelle unter GMD Philippe Bach haben ein sicheres Händchen dafür, wie sie ihre großen – und manch kleinen – Zuschauer den Weg ebnen ins eigene, vielleicht bereits verschüttete Universum der Märchenträume.
Als Wegbereiter und Türöffner ins Märchenland ist die Musik des spätromantischen Komponisten natürlich ein Selbstläufer. Bereits bei noch verschleiertem Gazéblick auf einen nebelumwaberten Zauberwald das vertraute Motiv des Schutzengelchorals zu hören („Abends will ich schlafen gehn“), allein diese Sekunden öffnen ohne Umschweife alle Adventstürchen zur Märchenseligkeit. Jetzt nur keine gegenwärtigen Bilder von verlorenen Kindern im Dschungel einer Plattenbausiedlung! Nichts dergleichen. Während noch die lieblichen Klänge aus dem Orchestergraben ertönen, verengt sich der Wald aus vertikalen und horizontalen Stoffbahnen zur zeltähnlichen Behausung der armen Besenbinderfamilie, mit Carolina Krogius als putzmunterem Hänsel, Anne Ellersiek (alternierend mit Elif Aytekin) als pfiffiger Gretel und Camila Ribero-Souza und Dae-Hee Shin (alternierend mit Marián Krejcík) als Eltern.
Solche Öffnungen und Schließungen von Waldkulissen wird es in den nächsten zwei Stunden noch häufiger geben. Und jede von ihnen birgt eine Überraschung. In einer riesigen alten Baumwurzel, zum Beispiel, verbergen sich Sandmännchen und Taumännchen (Monika Reinhard). Oder die Erscheinung der vierzehn Engel – der Kinderchor der evangelischen Kantorei und des EVG Meiningen unter Leitung von Sebastian Fuhrmann.
Die Engelchen steigen nicht auf einer goldenen Leiter vom Himmel herab, sondern erheben sich vor den Schlummernden dauerflatternd aus dem Abendnebel. Bereits durch die Schattenprojektion während des Orchestervorspiels zum zweiten Akt können sich die Zuschauer auf eine weitere Überraschung gefasst machen. Wenn schließlich eine Monsterspinne durch den Saal schwingt, ist es fast schon gewiss: Das Lebkuchenhäuschen muss ein Spinnenbau sein und die Knusperhexe – Ute Dähne, im Wechsel mit Stan Meus – eine gefräßige Spinne. Das kratzt allerdings nicht an den Erwartungen des Publikums, weil sich die Idee nahtlos in die fantastische Bilderwelt der Inszenierung einfügt.
So entzücken sich die Zuschauer nicht nur an der Musik, sondern ebenso – und das ist bei Operninszenierungen gar nicht so häufig – an der Interpretation der Geschichte. Die ist stimmig, vom seelenöffnenden Anfang bis zum glücklichen Ende, das mit der Wiederbelebung der Kuchenkinder aus dem Kinderchor noch einen letzten Zuckerguss bekommt. Herzallerliebst. Der Wohlklang des Gesangs und das Spiel der Künstler beglücken die Menschen im Saal natürlich auch. Schade nur, dass es keine Übertitelung gibt, um die romantisch-lyrische Sprache verständlich zu machen (der Text stammt von Humperdincks Schwester Adelheid Wette). Schon von Beginn an wird man mit einem alten Leid konfrontiert. Die Verständlichkeit des gesungenen Worts verschwindet – bis auf die Stimme des Baritons Dae-Hee Shin – meist im tiefen, dunklen Wald. Man weiß nicht wohin, man weiß nicht warum.
Das ist aber auch schon der einzige Wermutstropfen des Abends. Doch der gefährdet die Seelenstimmung vieler Theaterbesucher nicht. Wenn die kalte Meininger Nacht die Menschen bereits umhüllt, hört man den einen oder die andere auf dem Nachhauseweg sogar leise die Abendsegenmelodie summen.
Nächste Vorstellungen: 7. Dezember, 15 Uhr, 13. und 19. Dezember, jeweils 19.30 Uhr, 28. Dezember, 19 Uhr, 3. Januar, 19.30 Uhr. Kartentelefon: (0 36 93) 45 12 22 oder 45 11 37. www.das-meininger-theater.de